Süddeutsche Zeitung

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 43:Nicht immer sind es Medikamente

Neulich hat Pola Gülberg eine Schlaganfall-Patientin versorgt. Zunächst konnte die Frau ihre rechte Körperhälfte nicht wahrnehmen und bewegen. Das änderte sich aber rasant - und das hatte nicht nur etwas mit Arzneimitteln zu tun.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Neulich versorgte ich eine Patientin, deren Waschung unglaublich anstrengend war. Nicht für mich, sondern für die Frau selbst. Denn ihr Gehirn war dabei extrem gefordert: Kurz zuvor hatte sie einen Schlaganfall erlitten, ihre rechte Körperhälfte war ausgefallen. Ich nahm also ihre funktionierende linke Hand und führte sie mit dem Waschlappen über ihre rechte Seite - Gesicht, Hals, Schulter, Arm, Hand. Dann führte ich ihre rechte Hand über die linke Körperhälfte. Diese Vorgehensweise nämlich zwingt das Gehirn, die ausgefallenen Körperregionen wieder wahrzunehmen.

Ein Schlaganfall bedeutet eine Störung der Durchblutung im Gehirn. Dadurch funktioniert ein Teil davon nicht mehr richtig, es kommt zu sichtbaren Ausfällen, teils am ganzen Körper. Wird die Störung nicht behoben, dann vergrößert sich der Schaden stetig - er wird bald irreparabel. Behebt man aber schnell die Durchblutungsstörung und beginnt mit einer Bewegungstherapie, dann können sich neue Verbindungen im Gehirn bilden und es besteht eine gute Chance, alle bis dahin machbaren Körperfunktionen zurück zu erlangen. Schnell bedeutet in diesem Fall: vier bis sechs Stunden nach dem Beginn der Ausfallerscheinungen.

Noch bevor ich mit meiner Patientin die geführte Waschung begann, habe ich ein paar andere Dinge getan, um ihrem Gehirn auf die Sprünge zu helfen. Die Türe zu ihrem Zimmer lag auf der rechten Seite der Frau, also ihrer "schlechten" Seite. Das war gut, denn bei Schlaganfall-Patienten arbeitet man immer von der schlechten Seite aus. Für die Betroffenen ist das nicht unbedingt angenehm, oft erschrecken sie sich, weil sie Menschen auf dieser Seite nicht wahrnehmen können. Aber es muss sein, wenn der Schaden temporär bleiben soll.

Ich sprach meine Patientin an, während ich mich ihr von ihrer schlechten Seite aus näherte: "Schauen Sie mal zu mir!" Sie bewegte sich nicht. Dann berührte ich ihre rechte Schulter. Wieder nichts. "Hier drüben bin ich, auf Ihrer rechten Seite." Ich streichelte ihre rechte Kopfseite. Nichts. Ich beugte mich über sie, damit sie mich sehen konnte - und plötzlich drehte sie den Kopf nach rechts zu mir und kratze mit der rechten Hand ihre linke Schulter. Ein gutes Zeichen: Die Frau war nicht gelähmt, wie es oft bei Schlaganfällen vorkommt. Sondern sie hatte eine rechtsseitige Apraxie, nahm also mit keinem ihrer Sinne wahr, was sich auf dieser Seite abspielte, und konnte die rechte Körperhälfte nicht gezielt ansteuern. Eine Apraxie lässt sich in der Regel einfacher beheben als eine Lähmung. So war es auch bei meiner Patientin: Noch am selben Tag schaffte sie es, an der Bettkante frei zu sitzen, am Tag darauf konnte sie mit Unterstützung schon stehen.

Das ist es, was mich an der Pflege so fasziniert: Es lässt sich so vieles machen, damit es dem Patienten besser geht - auch ohne Medikamente. Klar sind solche - vor allem bei einem Intensivpatienten - unerlässlich. Aber mindestens genauso wichtig ist unsere Arbeit mit dem Patienten selbst: Auf ihn und seine vorhandenen Ressourcen einzugehen und genau dort mit unserer Pflege anzusetzen, um die verlorenen Fähigkeiten wieder aufzubauen und die vorhandenen zu erhalten.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 37-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte finden Sie unter sueddeutsche.de/thema/Auf_Station.

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