SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 55:Die Kniekehle ist tabu

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 55: Ein Stethoskop ist nur eines von vielen Werkzeugen, das Pola Gülberg in ihrer Arbeit verwendet.

Ein Stethoskop ist nur eines von vielen Werkzeugen, das Pola Gülberg in ihrer Arbeit verwendet.

(Foto: Christian Endt)

Kinästhetik ist in Pola Gülbergs Arbeit ein wichtiges Werkzeug - wie ein Stethoskop, nur anders: Ein Handlungskonzept der Pflege, durch das die natürlichen Bewegungsabläufe der Patienten unterstützt werden.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Während meiner Ausbildung kam ich zum ersten Mal mit Kinästhetik in Berührung: So wie das Stethoskop ein Werkzeug ist um Lungen- und Herzgeräusche abzuhorchen, bedeutet das kinästhetische Handlungskonzept ein Werkzeug für die Pflege, um den natürlichen Bewegungsapparat des Patienten auf schonende Weise zu unterstützen - schonend für Patient und Pflegekraft gleichermaßen. Damals habe ich das nicht verstanden: Die Pflege ist ein sozialer Berufszweig, da geht es darum, auf Andere zu schauen, also Bewegungen durchzuführen, die Anderen gut tun - und jetzt sollte ich auf mich selbst achten?

Die Kinästhetik lehrt das Verständnis über individuelle natürliche Funktionsweisen der Motorik: Ich gebe dem Patienten Zeit und unterstütze ihn gezielt - immer mit der Maßgabe, dass sich der Patient selbst bewegt, so gut es eben geht.

So gleitet jeder Patient, der nicht alleine aufstehen kann, nach einer Weile im Bett immer weiter nach unten in Richtung der Füße. Es gibt viele Möglichkeiten, wie er wieder nach oben rutschen kann - der Patient und ich müssen herausfinden, welche für ihn die beste ist: Ein Bein oder sogar beide aufstellen klappt fast immer. Wenn sich der Patient nun zum Beispiel mit den Händen abstützt, weil er dann Gesäß und Oberkörper zum Kopfende des Bettes schieben möchte, kann ich ihn dabei unterstützen, indem ich seine Beine festhalte. So kann sich der Patient ganz auf die Bewegung in seiner oberen Körperhälfte konzentrieren, denn das ist anstrengend genug.

Ist der Patient sediert und kann keine Bewegung aktiv ausführen, dann ahmen wir den Ablauf nach: Ich stelle seine Beine auf und fixiere sie mit einem Laken, damit sie nicht wegrutschen. Dann bewege ich den Oberkörper des Patienten Stück für Stück nach oben.

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 55: Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik.

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Einige Körperregionen sind sehr sensibel und deshalb tabu für Hilfestellungen, etwa ein Griff in die Kniekehle, um das Bein aufzustellen. Denn das ist schmerzhaft und kann den Patienten in seiner Bewegung einschränken. Das müsste ich ausgleichen, indem ich selbst deutlich mehr Kraft aufwende. Bei einem 150 Kilo schweren Mann mache ich das keine dreimal und mein Rücken ist kaputt - ich könnte gar keine Hilfestellungen mehr geben.

Die ersten Male bei einem neuen Patienten dauert eine kinästhetische Herangehensweise durchaus eine Weile. Aber die Geduld lohnt sich. Denn so lernt der Patient, vorhandene Ressourcen zu aktivieren und zu stärken. Das beschleunigt den Genesungsprozess und bedeutet letztlich einen Zeitgewinn für Patient und Pflege.

Es brauchte ein paar praktische Versuche, bis ich begriffen hatte: Unter kinästhetischem Gesichtspunkt bedingt sich das Wohlbefinden von Patient und Pflegekraft - beide Parteien gewinnen.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 38-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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