Mein Patient kam in der Nacht zu uns, ein Notfall. Er war nicht richtig bewusstlos, aber auch nicht richtig ansprechbar. Somnolent nennt sich ein solcher Zustand: Man ist benommen, schläfrig. Als die Kollegen auf Normalstation das bemerkten, wurde er auf die Intensiv verlegt. Im Frühdienst wurde er mir zugeteilt. Ich war gerade beim Bettplatzcheck meines zweiten Patienten - beide lagen im selben Zimmer nebeneinander -, als er ein "Guten Morgen" sagte. "Ach, Sie sind wach, wie schön, Ihnen auch einen guten Morgen, mein Name ist Pola und ich bin heute Vormittag für Sie zuständig", erwiderte ich, lugte kurz hinter dem zugezogenen Vorhang zwischen den zwei Betten hervor und lächelte ihm zu. "Warum sind Sie so nett zu mir?", fragte er da plötzlich.
Ich war irritiert. Warum sollte ich nicht nett sein? "Das bin ich nicht gewohnt", fügte mein Patient noch an. Das machte die Angelegenheit nicht unbedingt klarer für mich. Doch eins nach dem anderen, und so vertröstete ich den Mann kurz, um erst noch meinen anderen Patienten fertig zu machen.
SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 89:Von Rosen und Meerjungfrauen
Immer wieder versorgt Pola Gülberg ältere Patienten mit Tätowierungen. Oft erfährt sie dadurch nette Anekdoten aus deren Leben, andere Tattoos sind auch einfach nur schön anzusehen. Manchmal gibt es aber auch Fälle, in denen ihr der Körperschmuck Unbehagen bereitet.
Etwas später, als ich ihm seine Medikamente gegeben hatte und wir schon ein wenig miteinander geplaudert hatten, da habe ich ihn gefragt, warum er das vorhin so gesagt hat. Es beschäftigte mich wirklich. Denn in meiner Wahrnehmung war ich nicht über die Maßen oder auffallend freundlich - ich sprach ganz normal mit ihm, freundlich, klar, aber eben auch so, wie man mit Menschen halt spricht. Für mich war daran nichts Ungewöhnliches.
Mein Patient redete nicht lange um den heißen Brei herum und erzählte mir, dass er erst vor Kurzem aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er hatte eine Drogenvergangenheit, war mittlerweile in einem Drogenersatzprogramm. Und seine Adresse war eine Obdachlosenunterkunft. Das reichte wohl aus, damit sich manche Menschen ihm gegenüber weniger nett verhielten. Selbst medizinisches Personal, wie er mir schilderte.
Mich hat es bedrückt. Ich versuche jedem meiner Patienten so offen wie möglich gegenüberzutreten, sie selbst kennenzulernen. Dann kann ich immer noch entscheiden, ob mir jemand sympathisch ist oder nicht. Aber selbst, wenn es einer mal nicht ist, ist das noch lange kein Grund, dass ich unfreundlich zu ihm bin. Man kann nicht allein aufgrund der Vorgeschichte eines Menschen sagen, wie er heute ist. Schubladendenken funktioniert nicht, da könnte ich zig Gegenbeispiele nennen.
Und mein Patient wäre einer davon. Ich habe mich super mit ihm verstanden, er war ein aufmerksamer Mann und Beobachter. So hatte er bemerkt, dass ich am Unterarm noch etwas Glitzer hatte. Ich erzählte ihm, dass meine Nichten zu Besuch waren und es Glitzertattoos gab. "Ach, mei, das ist ja nett", sagte er daraufhin und schmunzelte. Das war es tatsächlich gewesen - genauso nett wie mein Patient es auch war. Ich hoffe sehr, dass die negativen Reaktionen auf ihn als Person, ohne dass man ihn überhaupt kennt, aufhören.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.