SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 91:Was "tun Sie alles" wirklich bedeutet

Lesezeit: 2 min

In manchen Fällen ist klar, dass nur noch die Beatmungsmaschine atmen wird und nie wieder der Patient. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Fälle von Übertherapie erlebt Pola Gülberg immer wieder: Es ist klar, dass der Patient sterben wird. Doch der Prozess wird mit medizinischen Mitteln verzögert - oft ein langer und schmerzvoller Weg, der trotzdem mit dem Tod endet. Wie lässt sich das verhindern?

Protokoll: Johanna Feckl

Schon oft habe ich erlebt, wie sich Angehörige von einem sterbenden Patienten verabschiedet haben - es gibt sehr unterschiedliche Arten, das zu tun. Aber dass sich die Ehefrau voller Verzweiflung zu ihrem schwer kranken Mann ins Bett gelegt und "Nein, nein, lass mich nicht alleine" gerufen hat, das ist bisher erst einmal vorgekommen.

Der Patient war vorerkrankt und schon mehrere Male bei uns gewesen. Dieses Mal war er auf der Normalstation bereits nicht mehr ganz bei Sinnen gewesen, seine Prognose war infaust - das bedeutet, dass keine Besserung des Zustands möglich und sein Tod zu erwarten war. Seine Frau bestand dennoch darauf, dass die Ärzte alles tun sollten, um ihn am Leben zu halten. Also kam er zu uns auf die Intensiv. Schnell wurde er reanimationspflichtig - sein Herz sprang wieder an. Es folgten Intubation, Beatmungsmaschine und alle möglichen Medikamente, um seinen Kreislauf irgendwie aufrecht zu erhalten.

Es war ein klassischer Fall einer Übertherapie am Lebensende: Mit allen Mitteln, die der Medizin zur Verfügung stehen, wird ein Leben erhalten - obwohl klar ist, dass der Betroffene sterben wird, dass sein Körper einfach nicht mehr kann. Die Medizin zögert das Sterben nur hinaus, oft auf schmerzvolle oder unwürdige Art.

Das sind harte Worte, das ist mir klar. Aber wer in meinem Beruf arbeitet und immer wieder solche Fälle erlebt, der weiß, dass es die Wahrheit ist.

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Nachdem wir ihn ein zweites Mal reanimiert hatten und die Frau uns weiter bat, bloß nichts abzuschalten, sagte ich zu ihr so einfühlsam wie möglich: "Schauen Sie sich Ihren Mann genau an - er ist doch schon längst weg", da erwiderte sie: "Aber er atmet doch noch." Doch es war die Beatmungsmaschine, die atmete - nicht ihr Mann.

Die Reaktion der Frau ist nachvollziehbar, es ging schließlich um einen geliebten Menschen. Sie konnte die Situation nicht wahrhaben. Umso wichtiger ist es für Patienten, die schwer krank sind, sich schon bei der Diagnosestellung Gedanken zu machen: Was bedeutet es, wenn die Ärzte alles tun sollen, um das Leben zu erhalten? Was soll geschehen, wenn ein Kampf aussichtslos wird? Und dann sollten diese Wünsche in einer Patientenverfügung festgehalten werden.

Was für eine Erleichterung das für die Beteiligten sein kann, habe ich nämlich auch erlebt: Wieder war es ein Mann, er hatte genauestens verfügt, welche Behandlungen er wünscht und welche er ablehnt. Und seine Tochter sollte das letzte Wort behalten. Zunächst hatte sie gesagt, dass sie gar nicht wisse, wie sie nun entscheiden soll. Da nahm ich ihre Hände und habe gesagt: "Wissen Sie, Ihr Vater hat Ihnen ein Riesengeschenk gemacht, er hat alles schriftlich festgehalten - nun haben Sie es in der Hand, ob sein Wille durchgesetzt wird." Der Tochter meines Patienten ist eine große Last von den Schultern gefallen, als ihr das klar wurde. Im Falle ihres Vaters fand keine Übertherapie statt, er konnte friedlich im Beisein seiner Geliebten sterben.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 38-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusDrogenmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen
:"Die Betroffenen werden zunehmend jünger"

Die Heckscher-Klinik in München behandelt Minderjährige mit Suchtproblemen. Die stellvertretende ärztliche Direktorin Adelina Mannhart über erschreckende Trends und schöne Begegnungen mit ehemaligen Patienten.

Interview von Johanna Feckl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: