In der Nacht kam mein Patient wegen seines schlechter werdenden Zustands von der Normalstation zu uns auf die Intensiv, er war 82 Jahre alt, schwer vorerkrankt – und ein Workaholic. Schon am nächsten Morgen bat er mich, dass ich sein Handy anmache, für die Pin sollte ich einfach seine Frau kontaktieren. Doch die sagte mir sofort: „Bitte machen Sie ihm nicht das Handy an, dann fängt er wieder an zu arbeiten.“
Wenige Stunden zuvor stand es Spitz auf Knopf, dass wir ihn intubieren mussten, weil er sich so schwer mit dem Atmen tat. Jeder Atemzug erschöpfte ihn, das war ihm anzusehen, wie mir meine Kollegin aus dem Nachtdienst bei der Übergabe mitteilte. Doch er beklagte sich nicht – eigentlich sagte er generell fast nichts. Es hatte den Anschein, als wolle er nach außen weiterhin seine Stärke zeigen, auch wenn von der gerade kaum etwas übrig war. Keine leichte Situation für uns: Woher sollen wir wissen, wie es ihm geht, wenn er es uns nicht sagt? Klar sehen wir gewisse Werte anhand der Monitorüberwachung. Aber diese Werte treffen auf das individuelle Empfinden eines jeden Menschen.
SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 119:Aber ich hab doch keine Zeit!
Häufig sind es sehr gestresste Menschen, die ihre Schmerzen nicht richtig erkennen oder sie mit Hilfe von Medikamenten unterdrücken. Anstatt gleich zum Hausarzt zu gehen, landen am Ende einige von ihnen bei Pola Gülberg auf der Intensivstation.
Zum Morgen hin verbesserte sich sein Zustand. Nach Rücksprache mit den Ärzten mobilisierten wir ihn zum Sitzen an die Bettkante. Denn zum einen fördert eine frühzeitige Mobilisation den Genesungsprozess, zum anderen geht das Atmen im Sitzen leichter als im Liegen. Das hat gut funktioniert: Er saß am Bettrand, während die Physiotherapeutin mit ihm ein paar Übungen zur Atemgymnastik gemacht hat. Nach einer guten halben Stunde halfen wir ihm wieder zurück zum Liegen – das reichte fürs Erste.
Als er sich zum Mittagessen wieder an den Bettrand setzen konnte, dachte ich mir: „Jetzt müsste es passen – es geht wirklich bergauf mit ihm.“ Dennoch schärfte ich ihm ein, dass er auf jeden Fall sofort Bescheid geben sollte, sobald er sich schlechter fühlte. So sagte ich es auch meiner Kollegin vom Spätdienst bei der Übergabe, doch ich war mir nicht sicher, ob er das tatsächlich tun würde.
Später erzählte mir meine Kollegin, dass am Nachmittag seine Familie zu Besuch war. Er hat sich aufgesetzt, sich mit ihnen unterhalten – er erweckte den Eindruck, als ob alles in Ordnung wäre. Selbst als meine Kollegin nachfragte, sagte er das. Doch sie sah anhand seiner Werte, dass das nicht stimmte. Und so bat sie seine Familie dann auch, zu gehen.
Sie hatten kaum die Station verlassen, als der Mann auch schon einbrach. Meine Kollegen mussten sofort intubieren. Als ich am nächsten Morgen zum Frühdienst kam, hing er zusätzlich an der Dialyse.
Einige Tage darauf hat er sich selbst extubiert. Später sagte er uns, dass er keine weitere Therapie haben möchte. Das akzeptierten wir selbstverständlich – er hat diese Entscheidung selbstbestimmt getroffen und das ist sein gutes Recht, auch wenn es schlimm war für seine Familie. Ich sehe es so: Mein Patient hat nicht aufgegeben, er hat nur eingesehen, dass er den Kampf nicht gewinnen kann. Das ist auch eine Form von Stärke.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 40-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.