Als ich zum Frühdienst kam, schnappte ich mir das Übergabe-Protokoll, auf dem die Namen all unserer Patienten aufgelistet sind. Nichts Ungewöhnliches, so beginne ich jeden meiner Dienste, um mir einen ersten Überblick über die Lage auf der Intensivstation zu verschaffen. Dieses Mal jedoch kam ich beim Lesen ins Stocken. Da stand ein Name, den ich nur allzu gut kannte - der eines Kollegen.
Es dauerte nicht lange, bis ich erfuhr, was genau geschehen war: Am Abend zuvor verließ unser Kollege nach dem Spätdienst die Klinik. Auf dem Weg zu seinem Auto überquerte er gerade die Straße, als ihn plötzlich ein Wagen von der Seite erwischte - er wurde angefahren. Und zwar ordentlich: Der Vorderreifen rollte über eines seiner Beine, dann kam das Auto zum Stehen, unser Kollege mit seinem halben Körper darunter.
SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 112:"Mei, Rosi, bist du des?"
Wer sich in einem Patientenzimmer auf der Intensivstation von Pola Gülberg hinter dem Vorhang verbirgt, der zwischen den beiden Krankenbetten zugezogen ist, unterliegt bestimmten Kriterien. Und manchmal trifft man sogar auf alte Bekannte.
Ein anderer Kollege, der nach dem Spätdienst bereits im Auto einige Meter weiter vorn fuhr, erzählte mir, dass er im Rückspiegel etwas Merkwürdiges bemerkt hatte. Er konnte die Situation nicht zuordnen, also drehte er lieber noch einmal um - und fand dann unseren gemeinsamen Kollegen unter dem Auto. Eben jener sagte uns später, wie froh er in diesem Moment gewesen war, dort draußen ein bekanntes Gesicht von der Intensivstation zu sehen.
Der verletzte Kollege kam in die Notaufnahme und dann sofort in den OP - er hatte einen offenen Bruch am Bein. Danach kam er zur Überwachung seiner Schmerzen auf die Intensivstation. Auf einmal war einer unserer Kollegen zu unserem Patienten geworden.
Ich glaube, allen auf Station schoss ein ähnlicher erster Gedanke durch den Kopf: "Scheiße, es ist einer von uns." Selbst kenne ich unseren Kollegen schon lange, wir haben bereits in einer anderen Klinik zusammengearbeitet, mittlerweile nun seit Jahren hier auf Intensiv, er war mein Praxisanleiter während meiner Fachweiterbildung - und er wohnt in meiner Nachbarschaft, ich kenne seine Frau, seine Kinder. Er gehört zu meiner Arbeitsfamilie, ich war besorgt. Alle aus dem Team waren das.
Die Frage, die sich dann stellte, war: Wer von uns versorgt ihn? Im Kollegium gibt's niemand "Neutralen", wir alle kennen ihn. Insofern war schnell klar, dass die Person zu ihm geht, die ihm am vertrautesten ist. Das war ein Kollege, der auch privat mit ihm befreundet ist.
Wenn die Situation eine lebensbedrohliche wäre, würden wir anders entscheiden. Dann kann die persönliche und emotionale Verbindung zum Hindernis werden. Letztlich gehört es zum Job, einschätzen zu können: Pack ich das - oder nicht? Und gemeinsam als Team schaffen wir es, dass jeder diese Frage ehrlich beantwortet und dementsprechend handelt.
Das alles liegt schon ein paar Jahre zurück. Die Beinverletzung unseres Kollegen war kompliziert, es dauerte, bis er wieder gesund war. Aber mittlerweile ist er das - erst vor Kurzem haben wir uns zufällig getroffen. In der Klinik sehen wir uns leider nicht mehr, da er inzwischen woanders arbeitet.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.