Vor einiger Zeit habe ich eine Zusatzqualifikation erlangt: Ich bin jetzt eine sogenannte Peer-Tutorin für Kinästhetik. Das Konzept der Kinästhetik wurde unter anderem für die Pflege entwickelt und beschäftigt sich mit dem Bewegungsapparat des Menschen – es geht darum, wie ich als Pflegekraft meinen Patienten am besten unterstützen kann, sodass er sein individuelles Maß an voller Bewegung zurückerlangt, und ich dabei meinem eigenen Körper nicht schade. Durch meine abgeschlossene Weiterbildung darf ich nun meine Kolleginnen und Kollegen in der Kinästhetik anleiten und so mein Wissen an sie weitergeben.
Der Weiterbildungskurs dauerte sieben Monate. Am Ende mussten alle Teilnehmenden eine Präsentation erarbeiten und den geladenen Gästen, zum Beispiel der Pflegedienst- sowie Stationsleitung und interessierten Kollegen, vortragen. Ich habe mich für das Thema „Funktionale Anatomie“ entschieden – das hat mich im Laufe der Weiterbildung am meisten interessiert.
SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 55:Die Kniekehle ist tabu
Kinästhetik ist in Pola Gülbergs Arbeit ein wichtiges Werkzeug - wie ein Stethoskop, nur anders: Ein Handlungskonzept der Pflege, durch das die natürlichen Bewegungsabläufe der Patienten unterstützt werden.
Kinästhetik ist für mich ein Werkzeugkasten, mit dem ich sowohl die Ressourcen meines Patienten fördern als auch meine eigenen Ressourcen schonen kann. Ziemlich toll also. Leider hat sich das Konzept bis heute nicht fest etabliert. Zwar hat jede Pflegekraft in meinem Alter oder jünger in der Ausbildung Grundkenntnisse dazu erlangt. Doch diese in der täglichen Arbeit auch anzuwenden, verlangt Routine. Und die erlangt man am besten, wenn es eine ausgebildete Person gibt, an die man sich bei Bedarf wenden kann.
Jeder, der mag, kann nun auf mich zukommen und wenn es die Zeit zulässt, gehen wir dann gemeinsam ein paar Sachen durch. So haben wir während eines ruhigen Dienstes im Sommer ein freies Patientenbett geholt, ein paar Kollegen zusammengetrommelt und geübt. Abwechselnd hat jeweils einer den Patienten gespielt, ich habe Bewegungsabläufe demonstriert und erklärt. Dass wir den Patienten abgewechselt haben, war wichtig: Kinästhetik ist kein starres Konzept, der Bewegungsapparat ist von Patient zu Patient unterschiedlich – und dementsprechend können wir in der Pflege nicht mit jedem gleich arbeiten.
Und so haben wir uns an diesem Tag verschiedene Varianten angeschaut, wie ein liegender Patient in seinem Bett etwas hinauf in eine aufrechtere Position rutschen kann, und danach noch gleich unterschiedliche Möglichkeiten, wie wir beim Aufstehen aus dem Reha-Stuhl unterstützen können.
Mir hat das wahnsinnig viel Freude bereitet – weil ich gemerkt habe, wie positiv die Übungen aufgenommen wurden. „Wahnsinn, da macht man jahrelang bestimmte Handgriffe, obwohl es einen viel leichteren Weg gäbe“, sagte zum Beispiel eine Kollegin zu mir. Genau darauf kommt es für mich an: Es ist nicht so, dass wir unsere Ausbildung machen, vielleicht noch eine Fachweiterbildung – und das war’s dann. Pflege bedeutet für mich lebenslanges Lernen. Und so halte ich jetzt schon nach der nächsten Weiterbildung Ausschau.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 40-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.