Manchmal kommt es vor, dass ein Patient bei uns ganz ohne Notfallsituation stirbt. Wenn ein Mensch nach langem Kampf gegen eine Krankheit oder ganz allgemein nach einem langen Leben seine Kräfte verliert, immer schwächer wird - wenn alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind und absolut sicher ist, dass nichts dazu führen wird, dass der Patient wieder gesund wird, dann ist das so ein Fall. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Aber ein Einfrieren der aktuellen Behandlung ist erlaubt. Dadurch kann der natürliche Sterbeprozess seinen Lauf nehmen.
Eine solche Entscheidung geschieht nicht innerhalb von einer Nacht. Es braucht Tage, Wochen oder wiederkehrende Aufenthalte bei uns, bis der behandelnde Arzt in Absprache mit den Angehörigen sagt: Es geht nicht mehr, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um uns zurückzuziehen - es ist das Beste für den Patienten.
Das bedeutet keineswegs, dass der Patient sich selbst überlassen wird. Der Betroffene bekommt zum Beispiel weiterhin Morphium, denn das lindert Schmerzen und Angst. Die medizinischen Maßnahmen fallen im Einzelfall unterschiedlich aus.
Auch die Pflege richtet sich weiterhin nach den individuellen Bedürfnissen, aber immer mit einem klaren Fokus: Dem Patienten so viel Ruhe wie möglich geben. Natürlich verhalte ich mich auch gegenüber anderen Patienten nicht unnötig hektisch und laut. Aber bei Sterbenden mache ich nur das, was nötig ist und ihnen gut tut - und das ist Ruhe. Meine Arbeit hat in solchen Fällen etwas Meditatives.
So erinnere ich mich an eine Patientin, der ich die Hände mit einem dafür vorgesehenen Öl massiert habe, sachte und langsam. Von dem, was sonst noch auf der Station passierte, habe ich in diesem Moment nichts mitbekommen. Ich war ganz bei meiner Patientin. Das Lied "Amazing Grace" tauchte in meinem Kopf auf, bald summte ich es, kaum hörbar - wie ein Mantra. Als ich mich in diesem tranceartigen Zustand um meine Patientin kümmerte, flüsterte ich ihr auf einmal zu: "Alles ist gut, Sie dürfen jetzt loslassen."
Mir ist erst, als ich den Satz ausgesprochen hatte, bewusst geworden, dass ich ihn auf Spanisch formuliert hatte - obwohl meine Patientin diese Sprache gar nicht konnte. Spanisch ist für mich die gefühlvollere meiner zwei Muttersprachen. Wenn ich sehr emotional bin, dann denke oder spreche ich häufig Spanisch, ohne dass ich dies bewusst entschieden hätte.
Dass mich meine Patientin gar nicht verstehen konnte, war nicht schlimm. Wichtig war etwas anderes: Weil Spanisch zu sprechen oder "Amazing Grace" zu summen mich in eine ruhige Stimmung versetzt, habe ich damit so gut ich konnte zu einer Wohlfühl-Atmosphäre für meine Patientin beigetragen - und das brauchte sie, um in Frieden gehen zu können.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 38-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.