Wir kannten den jungen Mann bereits, er war vielleicht Mitte 20. Im vergangenen Jahr war er 18 Mal bei uns im Haus – jedes Mal mit mindestens 3,7 Promille. Das ist ein Wert, der tödlich enden kann. Dieses Mal hatte er sich selbst getoppt: 5,1 Promille. Das ist so viel, dass selbst uns, die regelmäßig sehr betrunkene Patienten versorgen, die Ohren nur so schlackerten. Was muss diesem Mann in seinem Leben nur widerfahren sein, dass er immer wieder in solch einem drastischen Ausmaß zum Alkohol griff?
Die Frage beschäftigte alle auf der Station. Da sagte ein Kollege zu mir: „Ich glaub, der wurde gefoltert.“ Ich war erstaunt. Der Mann kam als Geflüchteter nach Deutschland – ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Flucht problemlos verläuft, klar. Aber Folter ist nochmal eine andere Hausnummer. Doch dann erzählte mir mein Kollege, was ihn zu diesem Verdacht geführt hat: Ihm war aufgefallen, dass der Mann viele Narben hatte, am ganzen Körper, kreisförmig, wie Brandmale, und das vor allem an Stellen, wo man selbst nicht herankommt, etwa am Rücken.

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 58:"Will der uns verarschen?"
Ein Patient von Pola Gülberg kommt mit starkem Unterzucker ins Krankenhaus. Er spricht eine Sprache, die niemand versteht - und reagiert weder auf Englisch noch auf Französisch, obwohl er das normalerweise tut.
Unserem Patienten ging es schlecht. Fast eine Woche musste er beatmet werden. Eine Lungenentzündung bekam er auch noch obendrauf. Er war auf dem besten Weg, sich seinen Körper und seine Gesundheit durch den exzessiven Alkoholkonsum dauerhaft zu zerstören – wegen einer Pankreatitis und Sepsis hatten wir ihn auch schon behandelt.
Von meinem Kollegen habe ich erfahren, dass der Mann sehr ängstlich war, als sich sein Zustand gebessert hatte und er wieder aufgewacht war. Das Schlimmste für mich war, als mir eine andere Kollegin, die ihn versorgte, erzählte, dass er bei der Körperpflege sofort weg zuckte, sobald sie auch nur in die Nähe der Analregion kam. Jedes Mal habe sie ihm mit ruhiger Stimme gesagt, dass er keine Angst haben bräuchte und sie ihn nur säubern möchte. Er beruhigte sich, trotzdem war es für meine Kollegin schrecklich, diese reflexartige Reaktion von ihm zu erleben.

Niemand von uns, der den Mann versorgte, hat gesagt „mei, jetzt hat der sich schon wieder so zugesoffen“ oder etwas Ähnliches, als er dieses Mal zu uns gekommen war. Ich bin mir aber sicher, dass viele Menschen genau so denken würden. Ich finde das falsch, solche Leute machen sich zu wenig Gedanken, vielleicht auch aus Bequemlichkeit. Ich weiß aus meiner eigenen Familie, wie fürchterlich es ist, wenn das politische Regime in einem Land gegen das eigene Volk arbeitet: Meine Mutter und andere Familienmitglieder haben den chilenischen Putsch miterlebt.
Das, was unser Patient erlebt hat, muss schlimmer gewesen sein. Es hat doch schließlich einen Grund, wenn jemand so sehr dem Rausch verfällt – ein Rausch, der zumindest für ein paar Momente dafür sorgt, dass man den eigenen körperlichen und seelischen Schmerz nicht mehr spürt. Ich wünsche mir sehr, dass der junge Mann die psychologische Unterstützung bekommt, die er wie jeder andere auch verdient. Damit er eine Zukunft in seiner neuen Heimat hat, und sich diese nicht weiter von seiner Vergangenheit zerstören lässt.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 40-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind online unter sz.de/aufstation zu finden.