Der pH-Wert im Blut unserer Patientin war völlig entgleist, das kann im schlimmsten Falle zu Herzrhythmusstörungen führen und damit lebensbedrohlich sein. PH-neutral bedeutet, dass der Säure-Base-Haushalt im Körper im Gleichgewicht ist, so sollte es sein. Liegt der Wert darunter wie bei unserer Patientin, ist der Säuregehalt zu hoch. Doch wie war es dazu gekommen? Die Frau hatte sich die vergangenen Tage nicht fit gefühlt, wenig gegessen und sich auch immer mal wieder erbrochen, so erzählte sie es. Nichts Dramatisches also. Außerdem war sie erst in ihren Dreißigern, bei einem solch jungen Alter kommt es nicht einfach so zu einer massiven Übersäuerung. Die Symptomatik war ein Rätsel.
Als die Patientin schließlich erzählte, dass sie gerade eine Diät machte, in der sie keinerlei Zucker und Kohlenhydrate zu sich nahm, und ich dann noch erfuhr, dass ihr Mann nach dem Ramadan fastete, machte sich ein Verdacht breit: Hat sie zusätzlich zu ihrer Diät womöglich, wie im Ramadan üblich, tagsüber auch nichts getrunken? Sie stillte, und um Milch zu produzieren, braucht der Körper sehr viel Flüssigkeit und Nährstoffe – die holt er sich auch, im Zweifel bleibt davon dann also zu wenig für die Mutter übrig.

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 94:Alarmierender Durst
Wer plötzlich viel mehr trinkt, als empfohlen wird, sollte innehalten: Immer wieder erlebt Pola Gülberg, dass Menschen wegen einer unerkannten Diabeteserkrankung auf der Intensivstation landen.
Mit den Ergebnissen des Urintests gab es Gewissheit: Unsere Patientin befand sich in einer Ketoazidose, das ist eine bestimmte Form der Azidose, also der Übersäuerung des Blutes. So etwas sehen wir für gewöhnlich nur bei Diabetikern, doch die Frau war keine. Ihr Vorhaben, zu fasten und kaum Flüssigkeit zu sich zu nehmen hat sie innerhalb kürzester Zeit in einen gesundheitlichen Zustand versetzt, der einen Aufenthalt auf der Intensivstation notwendig gemacht hat.
Wir waren wirklich entsetzt darüber, denn in eine Ketoazidose gerät ein gesunder Mensch nicht, weil er einfach mal zwei Tage etwas weniger Kohlenhydrate zu sich genommen hat – da braucht es schon ein wesentlich extremeres Verhalten. Einen solchen Fall wie den unserer Patientin hatte niemand von uns je zuvor erlebt.
Ich bin nicht sicher, ob sie ihre gefährliche Lage zunächst verstanden hat. Gleich nachdem sie von der Notaufnahme zu uns auf die Intensivstation gekommen war, habe ich ihr eine Kleinigkeit zu essen gebracht – Knäckebrot und Joghurt, also etwas, das selbst für jemanden, der auf seine Linie achtet, kein Problem ist. Leider hat sie davon nichts angerührt.

Doch unser Doc blieb hart: Er gab mir wenig später die Anweisung, sie aufzuwecken, weil es absolute Priorität hatte, dass sie jetzt etwas aß. Denn nur so konnte sich ihr Säurehaushalt wieder regulieren. Und selbst am nächsten Tag war sie noch so schwach, dass sie sich nicht traute, ihr Baby zu halten – sie hatte Sorge, dass es ihr vom Arm fallen würde. Ich hoffe und wünsche ihr sehr, dass sie spätestens dadurch das Risiko ihrer Diät begriffen hatte und sie eine solche nicht wiederholen wird.
Der Wunsch nach einer schlanken Figur und das Streben nach Religiosität, das ist alles schön und gut. Aber wie bei eigentlich allem gilt auch hier: „Wer zu dogmatisch danach lebt, richtet mehr Schaden als Nutzen an.“
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 40-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind online unter sz.de/aufstation zu finden.