Nach und nach begannen wir, meinen Patienten von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen. Weaning nennt sich das. Im Idealfall stellen wir dazu die Sedierung komplett ein, damit der Patient wach wird und sein eigener Atemreflex wieder anspringt. Das Weaning ist ein Prozess: Immer wieder wird der Patient für eine bestimmte Zeit von der Beatmungsmaschine genommen – es ist wie ein Training, bis es mit der Atmung irgendwann hoffentlich wieder dauerhaft selbständig klappt. Während der Weaningphasen meines Patienten waren häufig die Angehörigen zu Besuch, bis sich ein Verdacht erhärtete: Sie störten die Genesung – unabsichtlich zwar, aber am Ergebnis änderte das nichts.
Die Familie des Mannes war insofern schwierig, als sie sehr bekümmert und gebrechlich wirkten. Schnell hatten wir gemerkt, dass wir aufpassen sollten, wie viele Informationen auf einmal wir ihnen zumuten konnten. Schon bald wurden wir gebeten, bei der Ehefrau die Details lieber auszusparen und stattdessen der Tochter alles ausführlich zu berichten. Dann sollten wir auch die Tochter schonen und uns doch eher an jemand Dritten wenden ... sie wirkten auf mich überfordert mit der Situation.
SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 169:Guter Rat kommt nicht immer an
Ein Mann ist zum wiederholten Mal mit einer Lungenentzündung auf der Intensivstation. Da erlebt Pola Gülberg eine schwierige Situation mit den Angehörigen – und hegt einen Verdacht. Doch ihre Erklärungen laufen ins Leere.
Leider brachten die Angehörigen ihre Sorgen mit zu meinem Patienten. Und das wirkte sich negativ auf ihn aus: Sobald sie bei ihm waren, wurde er unruhig, rutschte hin und her, seine Herzfrequenz erhöhte sich – alles Anzeichen von Stress. Das wunderte mich nicht, denn Ehefrau und Tochter wuselten um ihn herum, fassten ihn mal dort, dann schnell wieder woanders an, „jetzt atme mal ganz ruhig“, sagten sie zu ihm. Das Problem: Bei alledem waren sie selbst nicht ruhig.
Außerdem haben sie ihm von Dingen erzählt, die zu Hause gerade nicht so gut gelaufen sind. Ich vermute, dass mein Patient sonst das Familienoberhaupt war – derjenige, der sich um alles kümmert. Insofern kann ich den Reflex der Angehörigen nachvollziehen. Trotzdem konnte der Mann das gerade überhaupt nicht gebrauchen.
Es war nicht leicht, den Angehörigen ihre Wirkung auf meinen Patienten zu erklären, denn natürlich meinten sie es gut. So habe ich vorgeschlagen, dass sie sich still ans Bett zu ihm setzen, seine Hand nehmen und abwarten. Hätte er seine weggezogen oder sich abgewandt, dann wäre das ein Zeichen gewesen, dass er lieber alleine wäre – vielleicht, weil er nicht wollte, dass ihn seine Lieben in diesem Zustand sehen.
Die Familie gab sich Mühe, doch der Stress bei meinem Patienten hielt an. Um seine Genesung nicht zu gefährden, verkürzten die Ärzte seine Besuchszeiten. Auch das konnten wir den Angehörigen nur mit viel Geduld und Sensibilität vermitteln. Außerdem verschoben wir das Weaning auf Zeiten, zu denen sie nicht da waren. Trotzdem mussten wir sie jeden Tag daran erinnern, wenn es Zeit zu gehen war. Ich habe das nicht gern gemacht, aber in erster Linie muss ich meinen Patienten schützen und dafür sorgen, dass die Umstände für seine Genesung so gut wie möglich sind.
Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 40-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.