Ebersberg:Dieser Mann hat 10 000 Menschen obduziert

Prof. Dr. Oliver Peschel - Gerichtsmediziner

Oliver Peschel, 54, wohnt in Grafing und arbeitet in München als Rechtsmediziner. Für seine Expertise ist er weit über Bayern hinaus bekannt.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Grafinger Oliver Peschel gehört zu den bundesweit renommiertesten Rechtsmedizinern. Vor seinem Vortrag in Ebersberg räumt er mit TV-Klischees auf.

Von Viktoria Spinrad, Grafing

Wie betrunken war Beate Zschäpe, als sie die Zwickauer Wohnung des NSU-Trios in Brand setzte? Mit welcher Geschwindigkeit hat ein Münchner Kiosk-Verkäufer aus Wut mit Münzen auf eine Zweijährige geworfen? Sind die drei Feuertoten von der Dachauer Straße an einer Rauchvergiftung oder durch die extreme Hitze gestorben?

Mit solchen Fragen beschäftigt sich Oliver Peschel seit 26 Jahren. Der 54-jährige Grafinger ist Rechtsmediziner in München und weit über Bayern hinaus bekannt. Als etwa das UN-Kriegsverbrechertribunal im früheren Jugoslawien Exhumierungen anordnete, oder als bei einem Brand im österreichischen Kaprun 155 Menschen in einer Zahnradbahn starben, als ein Tsunami über Thailand wütete und Tote identifiziert werden mussten - immer dann klingelte sein Telefon.

Das Eisentor surrt, Peschel hat in sein Haus in Grafing geladen. Es ist das Haus, in dem bereits seine Großeltern gelebt haben. Heute wohnt er hier mit seiner Frau und seiner 17-jährigen Tochter. Von hier sind es nur 350 Meter zum Gymnasium, an dem er sein Abitur gemacht hat. Viel Holz, drei Katzen, Geweihe an den Wänden - Peschel jagt nicht nur wissenschaftlichen Wahrheiten hinterher, sondern in seiner Freizeit auch Hirschen und Wildschweinen, er hat einen Jagdschein.

"Wasser, Bier, Wein, Schnaps, Milch, Honig?", fragt er und gießt einen Schuss Milch in seinen Kaffee. Weiß und schwarz, Leben und Tod, das ist sein Metier. Egal, ob jemand betrunken gegen einen Baum gefahren ist oder ein Vergewaltigungs-Vorwurf zur Aufklärung steht - Peschel muss filigran arbeiten und versuchen, die Wahrheit auf den Tisch zu bringen.

Darum geht es ihm auch angesichts der öffentlichen Darstellung seines Berufs. Sendungen wie "Tatort" oder "Dead end" zeichnen oft das Bild des blassen, menschenscheuen Rechtsmediziners, der von morgens bis abends vor sich hin seziert, zum Tatort kommt und sogleich Ergebnisse präsentiert. Peschel schüttelt belustigt den Kopf: "So etwas gibt es bei uns gar nicht." Mit solchen Klischees will er aufräumen.

Die Sache mit den Tatorten. "Wir kommen zu den allerwenigsten Leichenfundorten", sagt er. Und dass man fast hellseherisch minutengenau die Todesuhrzeit verkündet, "das ist natürlich Quatsch". Hier kommt vielmehr eine Matrix aus vielen Faktoren ins Spiel: Wie sieht eine Leiche aus? Wie ist sie gekleidet? Ist es kalt, warm, feucht, trocken? Scheint die Sonne? Die Faktoren fließen in ein Rechenprogramm, heraus kommt eine Zeitspanne. "Wenn man morgens einen Toten findet, könnte die Person zum Beispiel zwischen 16 und 24 Uhr gestorben sein", erklärt Peschel.

Er spricht ruhig und überlegt, auf Fragen antwortet er präzise. Genauigkeit war auch gefragt, als er Beate Zschäpes Alkoholisierung errechnete. Drei Flaschen Sekt, getrunken von mittags bis ungefähr Mitternacht, Körpergewicht 63 Kilo, Alkoholabbau abziehen, keine Ausfallerscheinungen, das Resümee: "Keine relevante Beeinträchtigung der kognitiven oder physischen Leistungsfähigkeit." Ein Prozess, den Peschel als "anstrengend", aber auch als "anspruchsvoll" erlebte. Er sezierte auch die zwei Münchner NSU-Opfer, machte Analysen von Tatorten in Hamburg und Köln, rekonstruierte die Raubüberfälle, "ein ziemlich buntes Spektrum".

Teamwork ist auch bei Katastrophen-Einsätzen nötig

Zu seinem abwechslungsreichen Job gehört auch ein prominenter Patient, dem es gar nicht kalt genug sein kann. Ein- bis zweimal im Monat fährt Peschel über den Brenner, um bei Ötzi nach dem Rechten zu schauen. Seit 2016 ist er Leiter des Konservierungsteams, das sich um die weltberühmte Gletschermumie kümmert. Peschel ist also dessen "Leibwächter, Leibarzt, Krankenpfleger", wie er schmunzelnd sagt. Er checkt dann: Hat sich das Mumiengewebe verändert, die braune Haut verfärbt? Sein höchstes Gebot: "Sauber auf die Eisschicht achten."

Peschel nippt am Kaffee. An diesem Dienstag hat er Besprechungen gehabt, vor Gericht seine Einschätzung zu einer Masskrugschlägerei auf dem Oktoberfest gegeben, Gutachten korrigiert. Obduktionen? "Heute ausnahmsweise nicht", sagt er. Etwa 10 000 Leichen hat er in seinem Vierteljahrhundert als Rechtsmediziner seziert, "einmal die Einwohnerzahl von Grafing". Dabei ist er nicht - wie gerne im TV dargestellt - alleine, sondern immer mit mindestens einem Kollegen zusammen, so ist es vorgeschrieben.

Teamwork ist auch bei seinen Katastrophen-Einsätzen nötig. Zum Beispiel, als er im Jahr 2000 nach Kaprun gerufen wurde. Er und seine Kollegen machten sich dran, 155 komplett verbrannte Leichen zu sezieren, um ihren Verwandten so schnell wie möglich Gewissheit zu verschaffen. Dabei musste er sich an den inneren und äußeren Merkmalen orientieren, die noch sichtbar waren. Sind Wurmfortsatz und Gaumenmandeln noch da? Wie sehen die Zähne aus? Trägt das Opfer Schmuck? Wie groß, klein, dick, dünn ist die Person? "Das war nicht ganz ohne", sagt er.

Was machen solche Erfahrungen mit einem Menschen - und mit dessen Menschenbild? Peschel lehnt sich im Stuhl zurück. "Man darf die Dinge nicht zu sehr an sich rankommen lassen", sagt er, "sonst erleidet man Schiffbruch." Dann schildert er einen Fall eines Mädchens, das 1985 tot in einer Wohnung in der Münchner Studentenstadt gefunden wurde. Ihre Kopfverletzungen schrieb die Polizei einem Unfall zu und stellte das Verfahren ein.

15 Jahre später fielen die Unterlagen mit den verdächtigen Blutspuren an der Wand einem Polizisten in die Hand, der Fall wurde neu aufgerollt. Peschel untersuchte die Spuren, sie wiesen auf ein Tötungsdelikt hin. Über den Fingerabdruck fand die Polizei den Täter. Er gestand, die Eltern hatten endlich Gewissheit: Der Mann war eingebrochen, das Mädchen wach geworden. Als er das bemerkte, griff er in Panik nach einer Wasserflasche und schlug das Mädchen tot. Peschel sagt: "Die meisten Täter sind ganz normale Menschen, die in einer Situation eine sehr falsche Entscheidung getroffen haben."

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