Ortsumfahrung:Von der Salzstraße bis zum Lärmproblem

Einst blieben die Pferdewagen im Morast stecken - Ein Blick in die Geschichte der B 304 in Kirchseeon.

Inga Rahmsdorf

Ganz oben auf der Tagesordnung steht derzeit in Kirchseeon die Ortsumfahrung - im Juli sollen die Bürger darüber abstimmen. Das Thema spaltet die Gemeinde wie zur Zeit wohl kein anderes. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt: die Kirchseeoner diskutieren nicht nur seit Jahrzehnten über die Bundesstraße 304, viele Debatten sind denen von heute erstaunlich ähnlich - auch wenn manch eine Partei ihre Haltung verändert hat. Während manche Bürger auch vor 30 Jahren schon die Null-Lösung bevorzugten. Es wäre zudem bereits die Umgehungsstraße einer Umgehungsstraße. Ein Blick in die Geschichte Kirchseeons: 17. Jahrhundert: Schon im 17. Jahrhundert überquerten etwa drei Salzfuhrwerke pro Stunde den Spannleitenberg im heutigen Kirchseeon, erzählt die Ortschronistin Dagmar Kramer. Für damalige Verhältnisse herrscht damit bereits Hochbetrieb. Über die heutige Bundesstraße wird damals Salz, Wein und Heu nach München transportiert. Es ist ein mühsames Unterfangen, die Straße ist nicht asphaltiert, häufig bleiben die Pferdewagen im Morast stecken. Die Straße ist schmal, wenn Räder brechen, blockieren die Fuhrwerke den ganzen Weg. 19. Jahrhundert:Um den Spannleitenberg zu umfahren, wird am Ende des 19. Jahrhunderts, als Kirchseeon gerade gegründet worden ist, die Straße in den Ort hinein verlegt. Und so klappern die Pferdewagen auf Sandwegen durch das heutige Zentrum, am Bahnhof vorbei und die Wasserburgerstraße entlang - bis in die 1960er Jahre hinein. 1960er JahreDie Wirtschaft boomt in Deutschland, auch im Landkreis kaufen sich immer mehr Einwohner ein Auto, der Verkehr in Kirchseeon nimmt stetig zu. Mitte der 1960er Jahre baut die Gemeinde eine Umgehungsstraße: sie verlegt den Verkehr wieder zurück auf alte Salzstraße, die über den Spannleitenberg führt. Doch es dauert nicht lange, bis die Diskussion darüber beginnt, dass Kirchseeon eine neue Umgehungsstraße braucht - diese Debatte hält bis heute an. Dezember 1982: In Kirchseeon gründen 20 Einwohner einen Arbeitskreis, um Trassenvorschläge für die Ortsumfahrung zu diskutieren. Sie sammeln innerhalb von sechs Tagen 776 Unterschriften gegen eine Südumgehung. Jede Art von Südtrasse sei "untragbar", so ihre Position. Der Bau sei wesentlich aufwendiger und kostspieliger als andere Varianten, die Südtrasse zerstöre land- und forstwirtschaftliche Gebiete und überquere schützenswerte Biotope. Auch die SPD lehnt die vom Bauamt vorgeschlagene Südtrasse ab und schlägt eine Nordtrasse durch den Forst vor. Bei einer Bürgerversammlung in der ATSV-Turnhalle machen 350 Kirchseeoner deutlich, dass sowohl die Nordtrasse als auch die Südtrasse bei ihnen auf Widerstand stößt. Den meisten Beifall findet dort die Null-Lösung: gar keine Ortsumfahrung. Januar 1983: Kirchseeons Gemeinderat entscheidet sich für eine Nordtrasse durch den Ebersberger Forst. August 1990: Als "letzte Chance" für eine Ortsumfahrung schlägt das Straßenbauamt München eine Trasse vor, die nördlich durch den Forst verläuft. Wegen des Widerstands von Naturschützern und Forstbehörde ist aber ein Realisierung durch den Bannwald unsicher. 1993Das Verkehrsaufkommen auf der B 304 liegt im Gemeindegebiet laut einem Verkehrsgutachten bei etwa 19 000 Fahrzeuge pro Tag. Für die nächsten Jahre wird eine Zunahme um 23 Prozent prognostiziert. Etwa 66 Prozent dieses Verkehrs ist Durchgangsverkehr. August 1995Der Gemeinderat Kirchseeon lehnt die Zornedinger Ortsumgehung mit großer Mehrheit ab. Er fordert stattdessen die Erstellung eines übergreifenden Verkehrskonzepts für die B 304. Januar 1996Vehement sprechen sich die Grünen gegen eine Ortsumfahrung aus. Statt einer großen Umgehungsstraße, deren entlastender Effekt bereits nach wenigen Jahren hinfällig wäre, forderte der verkehrspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Albert Schmidt, "mehrere kleine Schritte" zur Lösung des Verkehrsproblems in Kirchseeon. Juni 1997Alle vier im Landkreis anstehenden Ortsumfahrungen im Zusammenhang mit der B 304 werden als "vordringlicher Bedarf" eingestuft. Für die Umfahrungen von Kirchseeon sind die Planungen aber zurückgestellt. November 1998Die Gemeinde schickt ihren Bürgern einen Fragebogen zu, an dem sich 2666 Kirchseeoner beteiligten. Etwa 71 Prozent sprachen sich darin für die Verlegung der B 304 aus, knapp 26 sind dagegen. 55 Prozent geben an, auch dann noch für eine Umgehung zu stimmen, sollte diese entlang des nördlichen Gemeinderandes verlaufen. 41 Prozent lehnen eine solche Trasse ab. März 1999Der Gemeinderat Kirchseeon spricht sich gegen eine Umfahrung für Ebersberg aus. Ohne konkrete Aussicht auf eine Entlastung Kirchseeons könne man den Plänen der Nachbargemeinde nicht zustimmen. Die CSU-Fraktion stimmt dem Beschluss jedoch nicht zu und bezeichnet ihn als "unfairen Akt". April 1999Der Gemeinderat spricht sich mit großer Mehrheit für eine Ortsumgehung im Norden aus. Er folgte damit dem Votum einer Bürgerbefragung. Juli 1999Die vier Bürgermeister von Ebersberg, Zorneding, Kirchseeon und Vaterstetten sprechen für die Ortsumfahrungen im Bonner Verkehrsministerium und im Bayerischen Landtag vor. Doch dort vertröstete man sie mit vagen Versprechen. November 2002Das Münchner Straßenbauamt stellt ein Umweltverträglichkeitsgutachten der Ortsumfahrung vor. Von den drei möglichen Trassenverläufen - zwei im Norden und eine im Süden des Ortes - favorisiert das Straßenbauamt die nördliche Trasse, die auf Höhe des Waldfriedhofs wieder in die bestehende Bundesstraße einmündet. Die SPD schlägt stattdessen vor, die Trasse weiter in den Norden durch den Ebersberg Forst zu verlegen. 2003:Die Umgehungsstraße von Kirchseeon wird im aktuellen Verkehrswegeplan aus dem vordringlichen Bedarf in den so genannten weiteren Bedarf abgestuft. Das heißt: Planungsbeginn nicht vor 2008, Baubeginn frühestens 2015. Juni 2007:Der CSU-Bundestagsabgeordnete Max Lehmer will sich in Berlin für eine Kirchseeoner Ortsumgehung stark machen. In Absprache mit Bürgermeister Udo Ockel (CSU) wird er dabei für eine Trasse nördlich der Gemeinde durch den Ebersberger Forst werben. Juli 2007:Nach der Eröffnung der Zornedinger Umfahrung ist die Debatte über die Umgehungsstraße in Kirchseeon wieder neu entbrannt. Oktober 2007Der Marktgemeinderat beschließt die Einrichtung eines interfraktionellen Arbeitskreises "B 304 Ortsumgehung". Der Arbeitskreis hat das Ziel eine für den Gemeinderat und den Bürgern akzeptable Trasse für eine Ortsumgehung auszuarbeiten und in die zuständigen Gremien zur Beratung einzubringen. Februar 2008Bürgermeister Udo Ockel (CSU) antwortet auf die Frage, welches die beste Trasse wäre: "Ideal wäre ein südlich der Bahn verlaufender Tunnel, der alle Ortsteile vom Verkehr befreit, das Iveco-Gelände erschließt und den zunehmenden Verkehr von und nach Süden aufnimmt. Das wird leider ein Traum bleiben. Kirchseeon braucht aber so schnell wie möglich eine Umgehung." Juli 2008Der Arbeitskreis B 304 stellt drei Trassen vor. Sie basieren auf einer Liste von Kriterien und Forderungen, die der Gemeinderat erarbeitet hat. Oktober 2008Der Gemeinderat meldet drei Varianten dem Rosenheimer Straßenbauamt. Die Gemeinderäte wollen damit erreichen, dass das Projekt "Umfahrung Kirchseeon" bei einer Neufassung des Bundesstraßenausbauplanes möglichst in die höchste Dringlichkeitsstufe eingestuft wird. Februar 2010Das Straßenbauamt stellt die Machbarkeitsstudie vor. Insgesamt wurden vier Trassen bewertet, von denen das Bauamt keine favorisiert. Die geschätzten Kosten liegen zwischen 100 und 150 Millionen Euro. November 2010Kirchseeon startet einen neuen Versuch. Der Gemeinderat leitet zwei neue Vorschläge für eine Umgehungsstraße zur Prüfung an das zuständige Straßenbauamt weiter: eine weiträumige Südumfahrung und eine weiträumige Nordumfahrung. Januar 2012Das Straßenbauamt Rosenheim veröffentlicht eine neue Machbarkeitsstudie. Der Nordumfahrung werden darin keine hohen Chancen für eine Realisierung eingeräumt. Februar 2012Der Gemeinderat plant ein Ratsbegehren: Im Juli sollen die Kirchseeoner über die Ortsumfahrung abstimmen.

Ortsumfahrung: Die Straße gibt es schon seit Jahrhunderten: Einst fuhren dort die Salzfuhrwerke. 1959 konnten die Kirchseeoner in Ruhe auf dem Spannleitenberg Ski laufen (Foto aus dem Archiv von Dagmar Kramer). Heute schiebt sich der Verkehr über B 304.

Die Straße gibt es schon seit Jahrhunderten: Einst fuhren dort die Salzfuhrwerke. 1959 konnten die Kirchseeoner in Ruhe auf dem Spannleitenberg Ski laufen (Foto aus dem Archiv von Dagmar Kramer). Heute schiebt sich der Verkehr über B 304.

(Foto: EBE)
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