Extremismus im Netz:"Nächstes Mal nehmen wir den Polizei-Joker"

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"Constable" wirkt im Video zunächst sympathisch, dieses Bild verändert sich aber mit der Zeit. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Unter den Augen des Kultusministers testen Poinger Schüler das neue Onlinespiel "Augen auf!". Zu ihren Aufgaben zählt, einen schwarzen Jugendlichen vor Schlägen zu bewahren. Wird es ihnen gelingen?

Von Merle Hubert , Poing

Zwei Jugendliche halten einen Jungen mit dunkler Hautfarbe fest im Griff. Er heißt Neo, sein Blick ist verängstigt. Verzweifelt versucht er sich zu wehren, doch der breite Kerl und das Mädchen mit Glatze sind stärker. Ein junger Mann kommt dazu und holt aus. Kurz bevor er zuschlägt, hält er inne und spricht in eine Kamera: "Liebe Gemeinde, wir sind hier ja ein Community-Format und eure Meinung ist mir sehr wichtig", sagt der junge Mann. "Deshalb dürft ihr jetzt entscheiden. Soll dieses 'kriminelle Element' seiner gerechten Strafe zugeführt werden oder soll ich ihn freilassen?"

Der junge Mann heißt Constable Truth und ist ein Influencer mit einem gutlaufenden Video-Kanal. Unter dem Motto "Augen auf!" inszeniert er sich als Aktivist, der sich für die Natur in seiner Heimat einsetzt. Doch unterschwellig hetzt er in seinen Umweltschutz-Videos gegen Geflüchtete und Andersdenkende. Neo ist es gelungen, Constables Webcam zu hacken und so dessen rechtsextremistische Agenda aufzudecken. Neo wird als Maulwurf und Verräter beschimpft. Sich in Computer einzuhacken sei kriminell, so die Jugendlichen. Soll Neo dafür bestraft werden?

Schüler Sebastian Kraus, neunte Klasse. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Das müssen jetzt die Schüler der neunten Klasse der Dominik-Brunner-Realschule in Poing entscheiden. Und auch, wenn das Szenario mit Neo und Constable täuschend echt wirkt, handelt es sich nur um ein Online-Spiel für den Einsatz im Schulunterricht. Ziel des interaktiven Spiels "Augen auf!" der bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (BLZ) ist es, Schülerinnen und Schüler über Gefahren im Internet zu informieren - und auf Strategien von Extremisten in den sozialen Medien aufmerksam zu machen. Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) und Rupert Grübl, Direktor der BLZ, stellen das Projekt gerade in der Poinger Realschule vor. Es ist Donnerstagvormittag und auch Schauspieler Felix von Bredow, der den Protagonisten Constable Truth darstellt, ist bei der Vorstellung dabei.

Schüler Samuel Volkwein. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Schüler beeinflussen Verlauf und Ausgang des Spiels

Die Schüler können zwischen verschiedenen Antwortmöglichkeiten wählen: Neo bestrafen, Neo verschonen oder den Polizei-Joker nehmen? Die Gruppe entscheidet sich für "Neo verschonen" - doch mit dem was dann folgt, hatten sie nicht gerechnet. "Ihr Loser!", sagt Constable. "Ich zeig euch jetzt, was mit Verrätern, wie euch passiert! Ihr seid für mich gestorben! Das Vaterland braucht euch nicht mehr!". Dann folgen verwackelte Kameraaufnahmen. Man hört dumpfe Schläge und Neos Stöhnen. Doch wie hätte das verhindert werden können?

Zurück zum Anfang. Bevor das Spiel beginnt, werden die Schüler in vier Gruppen unterteilt. Es folgen Videos von Constable Truth, wie er kleine Igel aus achtlos weggeworfenen Plastikverpackungen rettet. Doch wer genau hinhört, entdeckt bereits in den ersten Filmausschnitten populistische und extremistische Botschaften. Zudem gibt es einen Community-Chat in dem die Fans von Constable Truth ihre Meinung posten können. Nach jedem Video müssen die Schülergruppen Aufgaben bewältigen und beeinflussen so Verlauf und Ausgang des Spiels. Sie entscheiden etwa, welche Nachricht sie in den Chat posten, ob sie Beiträge liken oder teilen und ob sie Fan-Artikel von Constable Truth kaufen. Dann plötzlich geht alles ganz schnell: Es gibt einen Verräter im Community-Chat, der entlarvt und bestraft werden soll. Neo.

Das Spiel läuft. Spielleitung hat Sylvia Schnaubelt, die Direktorin der Realschule Poing. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Bei so einem interaktiven Online-Game ist man viel aufmerksamer."

Wie kam das Spiel bei den Schülern an? "Die ersten beiden Videos von Constable Truth waren noch in Ordnung, aber dann haben wir gemerkt, dass da was nicht stimmt", sagt Sebastian Kraus. Der 16-Jährige ist selbst auf sozialen Medien wie etwa YouTube und Instagram aktiv und findet es wichtig, über Gefahren im Internet aufzuklären. Das Format als Online-Game gefällt ihm. "Ich kenne das selbst von mir, dass man im Unterricht nicht immer aufpasst", gibt er zu. "Bei so einem interaktiven Online-Game ist man viel aufmerksamer."

Rupert Grübl, Direktor der BLZ, und Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (von links) am Donnerstag in Poing. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Aufmerksamkeit - das sei das A und O beim Surfen im Internet, appelliert Minister Piazolo an die Schüler. Zwar kommt er etwas zu spät und verpasst das Online-Game, das sei aber nicht so schlimm, weil er das Spiel schon kenne. "Ich habe den Eindruck, dass ähnliche Szenarien auch in echt vorkommen können", sagt er. Gerade deshalb sei es wichtig, mit Projekten wie diesen gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen. Das Spiel sei bisher einzigartig in Deutschland, betont auch BLZ-Direktor Grübl. Beide erhoffen sich, dass die Schüler lernen mit extremistische Botschaften, wie etwa Fake News und Propaganda, auf sozialen Plattformen umzugehen. Schließlich seien Jugendliche derartigen Gefahren im Netz immer häufiger ausgesetzt.

56 Prozent der 12 bis 19-Jährigen sind mit extremen Haltungen konfrontiert

Bei der JIM-Studie gaben 56 Prozent der 12-19-Jährigen an, mit extremen Haltungen konfrontiert worden zu sein - eine Steigerung um elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch der 14-jährige Samuel Volkwein berichtet von Inhalten mit schwarzem Humor in früheren WhatsApp-Gruppen. Das Spiel hat ihn nachdenklich gestimmt. "Ich werde versuchen, Inhalte auf Social Media kritischer zu hinterfragen und Quellen immer erst zu überprüfen", sagt er.

Auch mit dabei: Schauspieler Felix von Bredow, der "Constable" im Video darstellt. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Darsteller Felix Bredow freut sich über den positiven Effekt des Online-Spiels. "Meist dient das Schauspielern nur zu Unterhaltung", sagt Bredow. "Mit der Rolle als Constable Truth kann ich etwas bewegen." Am Ende steht für alle die Erkenntnis: Nicht nur, aber auch im Netz, hat jeder immer die Wahl, Inhalte zu teilen, extremistische Botschaften zu melden und Informationen zu überprüfen. Im Nachhinein hätten sich die Schüler übrigens anders entschieden: "Nächstes Mal nehmen wir den Polizei-Joker!"

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