Neue Reihe in Grafing:Vom Revolutionär zum Gipskopf

Michael Skasa über Goethe

Erntet auch mal Widerspruch: Michael Skasa bei seinem frei gesprochenen Vortrag über den "wilden" Johann Wolfgang von Goethe.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Michael Skasa präsentiert den Auftakt seines "Litera-Turm". Passend zum Thema "wilder Goethe" avanciert der Nachmittag zu einem Ritt durch Literatur, Philosophie und Geschichte

Von Dorian Baganz, Grafing

Mit klangvoller Radiostimme trägt Michael Skasa die Zeilen aus "Prometheus" vor: "Bedecke deinen Himmel, Zeus..." Es ist eine der wenigen Stellen an diesem Sonntagnachmittag, die der 78-Jährige vom Papier abliest. Deswegen verliert er unterwegs schon mal den Faden: "Wo war ich noch gleich?" Das Publikum hilft ihm dann auf die Sprünge. "Ach, genau!" Es ist ja auch Premiere heute.

Und zwar seines "Litera-Turm" in der Grafinger Stadthalle. Genauer gesagt in der Turmstube, klar, so kommt die kulturelle Reihe zu ihrem Namen. Zahlreiche Menschen sind gekommen, um "Michael Skasa und der wilde Goethe" live zu erleben - so der Titel der Auftaktveranstaltung. Wie der Name schon sagt, wird Skasa, den hier viele noch von seiner Sonntagsbeilage im Bayerischen Rundfunk kennen, nicht über das komplette Werk von Goethe sprechen. Denn dessen "Brausekopfzeit" beschränke sich auf die ersten 20 bis 30 Jahre seines Schaffens - also auf Werke wie den "Götz von Berlichingen " oder "Die Leiden des jungen Werther". Erst später sei der Dichter zu einem "Gipskopf" geworden, so Skasa.

Aber so weit kommt der Referent in den gut zwei Bühnenstunden gar nicht. Seine Gedanken mäandern durch das Leben des "absoluten Dichterfürsten", dessen Eltern zwar Patrizier gewesen seien, aber nicht adelig. Erst im Jahr 1782 wurde er von Kaiser Joseph II. nobilitiert - und war fortan ein "von Goethe". Im Jahr 1765 ging er zum Studieren nach "Klein-Paris". So bezeichnete man Leipzig zu dieser Zeit, weil dort alle hingeschickt worden seien, "die was werden wollten". Goethe studierte vornehmlich Jura, Philosophie und Medizin. Doch er hörte auch die Poetik-Vorlesungen Johann Christoph Gottscheds. Über Goethes erste Begegnung mit dem Professor weiß Michael Skasa, natürlich, eine Anekdote zu erzählen: Als der junge Johann Wolfgang gerade den Raum betrat, in dem Gottsched gepudert wurde, habe er beobachtet, wie dieser dem Pudernden aus irgendeinem Grund eine schallende Ohrfeige verpasst habe. "Da flog dem Goethe der Diener entgegen."

Es soll nicht das einzige Mal bleiben, dass Skasa wohlwollendes Gelächter erntet. So fährt er mit der "Defloration" des berühmten Dichters fort, zu der es erst im Alter von 36 oder 37 Jahren in Italien gekommen sei. Dazu muss man wissen, dass Goethe von 1786 bis 1788 eine Reise dorthin unternahm, welche er als "Wiedergeburt" empfand. Erst da vollendete er wichtige Werke wie die "Iphigenie auf Tauris" oder den "Egmont". Seine Gipskopf-Zeit eben.

Zurück zum Sex. All das, was Goethe zuvor über erotische Erfahrungen geschrieben habe, sei vermutlich Angeberei gewesen, so Skasa, "vielleicht aber auch das, was man landläufig als 'Petting' bezeichnet". Das geht einem Herren im Publikum dann doch zu weit: "Das war keine Angeberei. Das war Liebe!" Man einigt sich darauf, dass diese Beziehung vermutlich "platonisch", nicht "sexuell" gewesen sei - und Skasa schiebt noch hinterher: "Aber was ist wichtiger?" Er ist eben ein Unterhaltungskünstler. Zumal es Goethes Mutter gewesen sei, die dessen spätere Frau Christiane Vulpius als "Bettschatz" bezeichnet habe, erklärt Skasa. Früher sei's halt ziemlich frivol in den oberen Klassen zugegangen. In einem Anflug fast Heidegger'scher Wortneuschöpfung bezeichnet der 78-Jährige das als "Durcheinandrigkeit".

Es ist eine fast unmögliche Aufgabe, nur von Goethes Zeit als "Stürmer und Dränger" zu sprechen: Zu fließend sind die Übergänge, zu wenig kohärent die Epochenbegriffe. Trotz Skasas Vortragsstil - anekdotenhaft und ohne Manuskript - skizziert er jene Periode, die er als "Geniezeit" bezeichnet, ziemlich genau: Enteignung der Kirchen, Säkularisierung und das Zurückgeworfensein auf den Menschen. Auch hier schimmert wieder zwischen den Zeilen Martin Heidegger durch: Dessen Konzept der "Geworfenheit" beschreibt das Schicksal eines jeden Menschen, ohne Einverständniserklärung in die Welt "geworfen" zu werden.

Aber anstatt die Philosophie Heideggers zu rezipieren, spricht Skasa lieber von Immanuel Kant und seinem klassischen Ausspruch der Aufklärung: "Sapere aude - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" An dieser Stelle trägt er - passend dazu - Goethes berühmte Hymne von Prometheus vor. Natürlich liefert er die griechische Sage gleich mit, laut der Prometheus den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen brachte. Als Strafe dafür befahl Zeus, ihn an eine Felswand im Kaukasus zu fesseln, wo ihm seine ständig nachwachsende Leber bis zum Ende aller Tage von einem Adler weggefressen werden sollte. "Eine schreckliche Vorstellung!", ruft Skasa in den Saal. Dieser Nachmittag ist ein wilder Ritt durch Literatur, Philosophie und Geschichte.

So bricht Michael Skasa immer wieder aus dem literarischen Rahmen aus und spricht zum Beispiel von dem "gar nicht so unwichtigen Knöchelchen", das Goethe entdeckt habe. Die Rede ist vom "Zwischenkieferbein" des Menschen. Seine Entdeckung sei damals "hoch anerkannt" worden. Aber der Vielbegabte habe auch mal daneben gelegen. So begann er in den 1790er-Jahren seine Untersuchungen zur Farbenlehre, auf die er stolzer gewesen sei als auf seine Lyrik. Er habe sogar geglaubt, Isaac Newton "vom Thron gestürzt zu haben". Hatte er aber nicht.

Wie konnte ein einzelner Mann für so viele Dinge gleichzeitig Muße aufbringen? Nach der Veranstaltung wird Michael Skasa eine Antwort darauf geben. "Vierzig Prozent der Zeit junger Leute geht heute dafür drauf", sagt er - und tippt auf das Smartphone des jungen Journalisten.

Der "Litera-Turm" am Sonntag, 22. März, 17 Uhr in der Turmstube behandelt Lena Christ: "Millisuppn und Zyankali - ein Dorfmadel wird Dichterin".

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