Süddeutsche Zeitung

"Naxos":Poinger Plattenlabel wird vom Außenseiter zum Marktführer

Lesezeit: 4 min

In den 90ern galt "Naxos" auf dem Schallplattenmarkt als das, was Ryanair heute im Luftverkehr ist. Wie sich daraus eines der weltweit größten Labels für Klassik entwickelte.

Von Ulrich Pfaffenberger, Poing

Die Aufnahme, mit der alles begann, ist noch heute ein Bestseller im Programm des Schallplatten-Labels "Naxos": Die Geigerin Takako Nishizaki spielt mit der Capella Istrapolitana unter der Leitung von Stephen Gunzenhauser Vivaldis "Vier Jahreszeiten" und das "Concerto alla rustica". Eine Dreiviertelstunde Musik voller Leichtigkeit und Energie, geprägt von der Leidenschaft der Solistin und der beherzten Begleitung durch das kleine Ensemble aus Bratislava.

Entstanden im Sommer 1987, erzählt das Album gleich mehrere Geschichten aus jener Zeit, als sich der CD-Boom gerade auf seinen Höhepunkt zubewegte und in Osteuropa Zeichen der politischen Öffnung sichtbar wurden. Es war auch die Zeit, als der Unternehmer Klaus Heymann im fernen Asien um die Hand eben jener Violinistin anhielt und von seinem künftigen Schwiegervater den Auftrag bekam, sich im Gegenzug um das Fortkommen der musikalischen Tochter zu kümmern. Nicht nur ein bisschen, sondern richtig.

Heymann legte also ein eigenes Schallplatten-Label auf. Er sah darin nicht nur eine Liebesgabe an seine Zukünftige, sondern auch die Chance, seinen Traum zu verwirklichen: Möglichst vielen Menschen klassische Musik nahezubringen. Denn mit dem sich auflösenden Eisernen Vorhang hatten sich Wege geöffnet, die bisher weitgehend unerschlossenen Ressourcen osteuropäischer Künstler und Ensembles zu nutzen und zu veröffentlichen - zu deutlich günstigeren Konditionen, als das im Westen der Fall war.

"Naxos" nannte Heymann sein Label, weiß auf blau, eingebaut in eine antikisierte Säulenwand, und die Namen auf den Umschlägen der Booklets lasen sich überwiegend so exotisch wie eben jene Capella Istrapolitana. Die Namen der meisten Dirigenten waren bestenfalls Insidern bekannt, sie konzertierten mit Orchestern von regionaler Bedeutung. Das Establishment rümpfte darob die Nase, unterstellte Dumping und mangelnden Anspruch. Kritiker mochten die Silberlinge nicht einmal mit der Kneifzange anfassen: "Naxos" galt Anfang der 1990er Jahre auf dem Schallplattenmarkt als das, was Ryanair heute im Luftverkehr ist.

Andererseits: Wer damals schon die seltenen Gelegenheiten genutzt hatte, Klassik made in Osteuropa live zu hören, kannte den hohen technischen Standard der Musiker und deren Bereitschaft zu mutigen, inspirierten Interpretationen sehr wohl. Diese Neugierigen schufen gemeinsam mit den Preisbewussten, Studierenden zum Beispiel, die Basis dafür, dass sich Naxos am deutschen Markt verankern konnte. Von wo das Label nie mehr verschwinden sollte.

"Mit 10 000 Titeln gehören wir heute zu den größten Produzenten weltweit"

Im Gegenteil: "Mit einem Katalog von rund 10 000 Titeln gehören wir heute zu den größten Produzenten weltweit", sagt Matthias Lutzweiler, der in der Poinger Zentrale seit 2011 Naxos Deutschland leitet, neben dem Stammsitz in Hongkong der bedeutendste Standort des Labels. "Von hier aus liefern wir CDs in mehr als 50 Länder weltweit. Dazu gehören auch Titel anderer Labels, auch früherer Konkurrenten. Insgesamt kommen wir auf 30 000." Weshalb auch gleich verständlich wird, warum sein Büro nicht in einer schicken Musik-Villa angesiedelt ist, sondern im zweiten Stock eines Logistikgebäudes im Poinger Westen, gleich hinter der Tankstelle am Kreisverkehr.

Dort ist das Unternehmen 2011 angekommen, von Anfang an wegen der jeweils handelnden Personen im Großraum München daheim und auf der Suche nach Raum, der dem Unternehmenswachstum entspricht. Daran, erste Überraschung im Gespräch, hat sich bisher trotz der blühenden Online-Märkte nichts geändert. "Drei Viertel der Ware, die wir auf den Weg bringen, lässt sich noch immer anfassen", berichtet Label-Manager Iwen Schmees. "Die Streamingdienste wachsen zwar ständig, aber sie kannibalisieren nicht den CD-Absatz."

Vielmehr würden, ganz im Sinne des Gründers, neue Zielgruppen für Klassik begeistert und erschlossen. Wobei dort, so erläutert René Zühlke, zuständig für Digital Services und Social Media, die einst strengen Grenzen zwischen U- und E-Musik ganz verschwunden sind. "Playlists auf Spotify sortieren nicht nach Barock oder Streichquartett. Die Einordnung erfolgt nach Stimmungslagen, Moods." Da kann dann ein Mozart auch mal zwischen Police und Eros Ramazotti landen.

Wie bei den Tonträgern, so auch im richtigen Leben: Es ist nicht die Technik, die den Ton angibt, es sind die Menschen. So beobachtet man in Poing zum Beispiel, dass CD-Verkäufe im Anschluss an Konzerte sehr beliebt sind, weil der unmittelbare Eindruck nachhallt, den die Künstler hinterlassen haben. "Wir unterstützen das aktiv"; sagt Lutzweiler, den man dann auch mal beim Rathauskonzert in Vaterstetten treffen kann, wo gerade einer seiner Künstler aufgetreten ist.

Wirkung entfaltet sich auch, wenn ein Kritiker im Radio - "unser wertvollster Kanal in die Öffentlichkeit" - eine Neuerscheinung bespricht und Hörbeispiele liefert: "Das merken wir sofort." Nichtzuletzt spitzen neue Klassikhörer die Ohren, wenn ein erfolgreicher Film oder eine TV-Serie erscheint, deren Musik dem Publikum unter die Haut geht. Mit "Twilight" etwa erlebte das Album mit Debussys "Claire de Lune" eine starke Nachfrage, obwohl schon länger am Markt.

Angesichts dieses Wandels in der Wahrnehmung des Begriffs "Klassik" gewinnt ein Satz an Tragweite, den Label-Manager Schmees, ein promovierter Musikwissenschaftler, wie eine Selbstverständlichkeit in den Raum stellt: "Das technische Format ist zweitrangig, wichtig ist, dass die Musik zum Hörer kommt." Die einstigen Angriffe auf CD- und Online-Aufnahmen, sie vermittelten angeblich nicht die wahre Atmosphäre eines Stücks, hätten sich erledigt. "Audiophile leisten sich den Download hochauflösender Aufnahmen, die deutlich besser sind als CDs"; beobachtet Zühlke. Naxos selbst hat die wachsende Marktmacht immer wieder genutzt, um Fortschritt und Innovation auf diesem Gebiet voranzutreiben, etwa mit der DVD-Audio, der Vorläuferin von Blueray.

Was die Musikfreunde in Poing dazu bringt, "dass wir uns hoch motiviert in einem Markt engagieren, der nach einigen Schrumpfungen wieder wächst, weil das Digitale uns neue Wege bereitet", wie Lutzweiler den Wandel der jüngsten Zeit zusammenfasst. Der Ausbau der "Naxos Online Libraries" mit derzeit mehr als zwei Millionen Tracks aus 130 000 CDs von 80 000 Künstlern ist ein wichtiger Schritt dorthin. Nicht nur Musiker und Wissenschaftler sollen sie als Rechercheinstrument nutzen, sondern auch die Öffentlichkeit. Wenn dann wieder einmal, wie das Trio mit einem Lächeln berichtet, "einer mit einer ausgedruckten Liste vorbeikommt, um hier einzukaufen, dann werden wir ihn auch nicht vom Hof schicken". Bisher ist das erst ein Mal vorgekommen. Aber wer wahre Klassik-Fans kennt...

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Quelle:
SZ vom 20.09.2019
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