Nachbarschaftshilfe:Mehr als nur Betreuung

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Seit März gibt es in Baldham das Angebot einer Tagespflege: Das Konzept unterstützt die Senioren in ihrer Eigenständigkeit und entlastet die Angehörigen

Von Johanna Feckl, Vaterstetten

Ein Ingenieur, eine Apothekerin, ein Mathematiker, ein Jurist, ein Knopfdesigner, ein Ladenbesitzer - sie alle und noch mehr sind an diesem Dienstagmorgen gekommen. In einem Stuhlkreis sitzen sie nebeneinander und erzählen. Von früher. Damals, als sie noch in ihren Berufen gearbeitet haben. Inzwischen ist jeder von ihnen im Ruhestand, bei den meisten liegt das Arbeitsleben weit zurück. Aber das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, denn: Sie alle sind pflegebedürftig.

Der Stuhlkreis, in dem sich an diesem Tag sechs Männer und drei Frauen verteilt haben, befindet sich in der Tagespflege-Einrichtung der Nachbarschaftshilfe in Baldham. Wie andere Menschen morgens das Haus verlassen, um beispielsweise in die Arbeit zu gehen, können Pflegebedürftige tagsüber in eine Tagespflege kommen, wo sie betreut werden - sofern eine Pflegestufe anerkannt ist, übernimmt die Kosten die Pflegekasse. Das schafft zum einen Entlastung für die pflegenden Angehörigen, denn sie müssen sich nicht sorgen, ob es der Mutter oder dem Ehemann während der Zeit der eigenen Berufstätigkeit gut geht. Zum anderen bietet ein solches Konzept aber auch für die pflegebedürftige Person selbst Vorteile: "Unser wichtigstes Ziel ist, die Selbstständigkeit der Gäste zu erhalten", erklärt Marion Reger, die Pflegedienstleiterin in Baldham.

Silvia Parent und ihre Kollegen bieten den Senioren ein strukturiertes Tagesprogramm. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Das Baldhamer Angebot zur Tagespflege gibt es seit März diesen Jahres. Mittlerweile hat sich Routine eingespielt. Im Durchschnitt sind 15 Seniorinnen und Senioren täglich da, Kapazitäten gibt es derzeit für etwa 16. Die meisten kommen an einem bis drei Tagen pro Woche. Ein Fahrdienst holt jeden, der das wünscht, aus Vaterstetten, Grasbrunn und Zorneding zu zwei unterschiedlichen Uhrzeiten ab; eine Gruppe ist gegen 8 Uhr, die andere eine Stunde später da. Um 16 Uhr verlässt die erste Gruppe die Tagespflege wieder, die zweite um 17 Uhr. Das Zwei-Gruppen-System sei wichtig, damit nicht zu viel Trubel auf einmal herrscht, erklärt Reger.

Joana Wasniewska sitzt auf einem Stuhl und blättert im Lokalteil einer Tageszeitung. Sie ist Regers Stellvertreterin. "Morgen wird das Wetter wieder etwas wärmer", liest sie vor. Sie blickt auf und lässt ihren Blick zwischen den Männern und Frauen schweifen, die heute in die Tagespflege gekommen sind. Wasniewska blättert weiter. Immer wieder hält sie inne, liest kurze Passagen vor und geht mit der Zeitung in der Hand zwischen den Tischen umher, um die dazugehörigen Fotos zu zeigen. "Immer ist was los, gell", kommentiert ein Mann und beugt sich nach vorne, um eine bessere Sicht zu haben. Die Frau neben ihm nickt, bevor sie einen Bissen von ihrem Marmeladenbrot nimmt. Jeder Morgen hier startet mit einem gemeinsamen Frühstück und einer Zeitungsrunde.

Neue Tagespflege in der Nachbarschaftshilfe. (Foto: Christian Endt)

"Es geht darum, dass unsere Gäste eine klare Struktur erfahren", erklärt Marion Reger. Ein geregelter Tagesablauf gebe Menschen Sicherheit. Das sei besonders bei einer Demenz wichtig: Der Geist bröckelt, immer mehr bestimmt eine Orientierungslosigkeit das Leben. Neues und Ungewohntes wirkt dann schnell bedrohlich, weil es die Verwirrtheit verstärkt. In der Tagespflege sind die meisten von der Gedächtniskrankheit betroffen. Als Orientierungshilfe wird noch vor der Zeitungsrunde das Volkslied "Froh zu sein bedarf es wenig" gesungen. Ein festes Ritual, jeden Morgen. "Bei unseren Gästen funktioniert das wie ein Klick", sagt Reger. Nach einiger Zeit verbinden sie das Lied mit der Tagespflege. "Die Gäste wissen also: aha, heute bin ich hier."

Wenn Reger von den betreuten Menschen aus der Tagespflege erzählt - die meisten sind um die 80 Jahre alt -, sagt sie kein einziges Mal "Patienten" oder "Senioren". Sie spricht von Gästen. Das markiert das Selbstverständnis, das Reger mit der Baldhamer Tagespflege verfolgt: Hier wird nicht gepflegt im eigentlichen Sinne. Stattdessen liegt der Fokus darauf, die vorhandenen Ressourcen der Menschen zu aktivieren. Und die sind bei jedem anders gelagert: Einige sind auf einen Rollstuhl angewiesen oder brauchen beim Essen Hilfe, sind geistig aber klar wie eh und je. Andere hingegen sind körperlich fit, geistig jedoch von einer Demenz gezeichnet. Oder irgendetwas dazwischen.

Marion Reger. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Margit Dürschmied schaut in die Gesichter im Stuhlkreis. "Möchte jemand etwas von seinem Berufsleben erzählen?", fragt sie. Heute Vormittag steht Gedächtnistraining auf dem Programm der Tagespflege. Das Thema: Berufe. "Ich habe als Apothekerin gearbeitet", erzählt die Frau zu Dürschmieds rechter Seite. "Damals haben wir noch alles selber zusammengerührt - das war nicht so wie heute!" Reihum berichtet jeder ein paar Sätze von seinem Beruf. Manche erzählen Anekdoten, andere unterbrechen den eigenen Redefluss immer wieder - es scheint, als ob sie nach Worten suchen. Niemand hetzt hier, "jeder macht es so, wie er kann", betont Dürschmied.

Das ist ein wichtiges Prinzip in der Tagespflege. Deshalb werden die Gäste bei den Aktivitäten - neben Gedächtnistraining gibt es etwa den Musiknachmittag oder Bewegungstraining - meistens auch in zwei Gruppen aufgeteilt. Vier Männer bilden an diesem Tag die zweite Gruppe. Silvia Parente macht mit ihnen andere Übungen, einfachere: In ihren Händen hält sie ein Buch mit Bildern von Gegenständen. Die Männer sollen sie nacheinander benennen. Eine Mühle. Ein Hahn. Eine Katze. Ein Vogel. Das ist anstrengend, einer der Männer nickt immer wieder kurz ein.

Margit Dürschmied animiert die Gäste im Stuhlkreis zum Singen und Erzählen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Wir sind keine Aufbewahrungsstätte - bei uns wird gearbeitet!" Marion Reger erzählt von einem Mann, der zu Hause schon lange nicht mehr ans Telefon ging, wenn es klingelte. Wer spricht da? Was will der? Was soll ich tun? Das sei alles zu kompliziert für ihn gewesen. Seitdem er regelmäßig in die Tagespflege kommt, hebe er aber den Telefonhörer wieder ab - die Scheu scheint vergangen zu sein. Das Konzept der Tagespflege scheint positiv auf die Gäste zu wirken: Hier wird kommuniziert, die Sinne werden angesprochen, durch Musik, Bewegung, Spiele, Bilder. Es wird darauf geachtet, dass jeder ausreichend isst und trinkt. Regelmäßig besucht ein speziell ausgebildeter Hund die Einrichtung. Es wird gebacken und gegartelt. Und das alles in Räumen, die nichts von der Sterilität mancher Heime haben. Der Aufenthaltsraum etwa erinnert mit seinem roten Teppich, den knautschigen Sofas und dem warmen Licht viel mehr an ein Wohnzimmer.

"Auf uns kommt eine Welle an pflegebedürftigen Menschen zu", sagt Reger. "Das können wir gar nicht aufhalten." Diese Menschen alle im Rahmen von Pflegeheimen, ambulanten Pflegediensten und der Angehörigenpflege zu versorgen, sei gar nicht möglich. Es brauche mehr Angebote, die sich miteinander kombinieren lassen und die Eigenständigkeit der Senioren so lange wie möglich aufrechterhalten. Die Tagespflege ist für Reger eines davon.

© SZ vom 19.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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