Süddeutsche Zeitung

Musikalisches Highlight in Poing:Der Soundtrack eines besonderen Abends

Klassik in der Tankstelle, Folk-Rock zwischen Opernkulissen: Die lange Nacht der Musik überrascht und begeistert

Von Elisabeth Urban, Poing

Von außen sieht sie unscheinbar aus, die OMV-Tankstelle in Poing, doch zwei weiße Luftballons mit aufgedruckten schwarzen Noten am Eingang liefern einen Hinweis darauf, dass an diesem Samstag etwas anders ist als sonst. Folgt man der leisen Einladung der Ballons, wirkt das Szenario, das sich beim Eintreten in die Tankstelle bietet, fast schon surreal: Zwei Frauen in bodenlangen roten Roben spielen zwischen Kühlregal und Kanistern Querflöte, die beiden Klarinettenspieler tragen Anzug mit roter Krawatte, eine Dame sitzt am E-Piano und der Moderator des hier auftretenden Ensemble Funkenflug rezitiert Heinz Erhardt. Als hätte man sie aus einer Festsaalkulisse herausgeschnitten und -Plopp - zwischen die grauen Säulen der Tankstelle gesetzt, auf dem stumm geschalteten Fernseher läuft das Supertalent, ein Golden Retriever liegt auf dem Boden, es riecht nach Kaffee und eintretende Reisende sind zunächst äußerst verdutzt.

Genau dieser Überraschungseffekt macht den Charme der langen Nacht der Musik in Poing aus: Musik ist überall. In Bars und Cafés, im Baumarkt, der Tankstelle oder zwischen Kulissenteilen und Requisiten in den Werkstätten der bayerischen Staatsoper.

Einige Stunden vor dem Tankstellenintermezzo, die lange Nacht der Musik beginnt um 17 Uhr, strahlender Sonnenschein läutet den Samstagabend ein. Da ist es vielleicht nicht das nahe liegendste, sich auf den Weg abwärts, in die unterirdisch gelegene Face Bar zu machen, um bayerischem Rock von Talentfrei zu lauschen. Trotzdem sind etwa 20 Feierlustige in den dunklen Keller mit den farbwechselnden LED-Tischen gekommen, in dem die Band, Rock, leidenschaftliche Gitarrensoli und einen Hauch von bayrischem Reggae präsentiert. "I wui heid ned aufsteh", singt der Sänger, auf dessen T-Shirt der Schriftzug "Scheiß da nix, dann feid da nix" prangt, verrät dann aber in der Moderation, dass er doch ganz froh sei, heute aufgestanden zu sein. Das Publikum wippt mit, klatscht gemäßigt im Takt, wenn danach verlangt wird, nur das rhythmische Winken bei den Reggaesongs kann sich nicht durchsetzen.

Wer sich aufmerksam durch Poing bewegt sieht an allen Ecken die gelben Wimpel, die die nächste Veranstaltungslocation markieren - und die Luftballons mit dem Notenaufdruck, wie sie auch an der Tankstelle hängen.

Einige Straßen weiter, im Jugendzentrum Poing, spielen die Cleveland Steamerz, eine Metalband aus dem Erdinger Raum. Hier steht das Publikum, Getränke gibt es in Flaschen und durch die Fensterfront grüßen die letzten Sonnenstrahlen. Die Lichttechnik drinnen lässt sich davon jedoch nicht beeindrucken und tobt sich in allen Regenbogenfarben zur Musik aus. Man sieht den vier jungen Männern, die hier auf der Bühne harte Beats und Gitarrenriffs, aber auch beeindruckende stimmliche Performance abliefern, den Spaß am gemeinsamen Spielen an, immer wieder drehen sie sich zueinander und spielen sich an. Eine Reihe eingefleischter Fans steht direkt an der Bühne, kennt die Texte auswendig und je länger der Auftritt, umso mehr bewegt sich das altersmäßig bunt gemischte Publikum zur Musik. Füße klopfen und Köpfe nicken im Takt, Oberkörper schaukeln vor und zurück, der kleine Sohn des Drummers steht mit dicken grün-schwarzen Kopfhörern vor der Bühne. Wer keine Kopfhörer aufhat, dessen Ohren fühlen sich auch noch fünf Minuten nach dem Verklingen der letzten Takte an, als hätte man sie in dicke Watte gepackt.

Mittlerweile sind auf den Straßen schon mehr Menschen beim eifrigen Blättern in den Programmheftchen zu sehen, über die Friedensstraße schweben die Klänge der Luna Rossa Band, die im Ristorante La Piazzetta das Urlaubsfeeling zum Feierabendaperol liefern. An der Haltestelle des Shuttlebusses werden blaue Rasseleier verteilt, die dann im noch luftig gefüllten Bus gleich eingesetzt werden. Die Stimmung im Bus ist gut, ansteckend auch für die Passagiere, die den Bus eigentlich nicht im Rahmen der langen Musik nutzen, die Bässe dröhnen und die Bar wird belagert. Selfies entstehen, einige Frauen winken aus den Fenstern. Nächster Halt: die Poinger Einkehr. Hier spielen die Isarthoren bayrischen "Bierjazz", während die Servicekräfte riesige Schnitzelteller durch die Gänge balancieren. In zwei Reihen hintereinander stehen die Bandmitglieder, die Trichteröffnung des Sousafons ist mit weiß-blauem Rautenmuster bespannt, und von New Orleans bis Poing scheint der Weg gar nicht so weit zu sein, wenn die Trompete über das Stimmengewirr singt und das Saxofon Geschichten erzählt. Ob diese Geschichten dann von "Careless love" handeln oder von dem dringenden Wunsch eines Sängers "I mecht ins Wirtshaus geh" - das Publikum wippt mit, vor der Band tanzt allein ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz und rosa Ringelkleid.

Der Abend schreitet fort, der Shuttlebus wird voller. Wo es vorher noch nach Parfum und Straße roch, dominieren jetzt Zigaretten und Energydrinks, Poinger jeden Alters schwingen die Hüften, singen leidenschaftlich bei Beyonce-Liedern mit und zwischendrin eingequetscht sitzen einige Mitglieder der Musikkapelle auf dem Heimweg. Fragende Blicke rufen "Noch ein Bier?" quer durch den Bus, eine Frau um die Vierzig nestelt am rosa glänzenden Verschluss einer Piccoloflasche, die sie aus ihrer Handtasche gezogen hat während der Bus pulsiert. Der junge DJ im weißen Polohemd und Nerdbrille kaut Kaugummi, tanzt mit, animiert, baut gute Übergänge und schwitzt. Draußen ist es dunkel geworden, in den Fenstern des Busses spiegeln sich bunte Lichtpunkte und die Umrisse eines Vaters, der tanzt, während seine etwa dreijährige Tochter auf seinem Arm langsam einschläft.

Letzte Station des Abends sind die Werkstätten der bayerischen Staatsoper, in der Industriehalle spielen zwischen riesigen Gemälden und Requisiten die Cellarfolks. Sie erzählen mit Banjos und Ziehharmonika, Schlagzeug, Klavier, Geige, Gitarre und Bass irische Geschichten aus alten Zeiten, von der Seefahrt, der Liebe und der Hölle. Im Publikum wird gehopst, getanzt, mitgesungen und geschwitzt. Immer wieder kommen neue Instrumente zum Einsatz, und der Sänger, dessen Hose aus einem schwarzen Bein und einem im roten Schottenmuster besteht, erzählt die Geschichten nicht nur mit seiner Stimme, sondern viel auch mit seinem Blick. Die Hände werden erhoben, und es wird im Takt mitgeklatscht.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2019
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