Geköpft wird sie vermutlich nicht, selbst wenn sie einen Fehler machen sollte. Trotzdem ist es ein großes Abenteuer, dem Barbara Stadler nun entgegenblickt: Die Wirtstochter aus Anzing wurde angeheuert für den "Schichtl", jenes skurrile Traditionstheater auf der Wiesn, das vor allem bekannt ist für ein grausiges Spektakel, nämlich "die Enthauptung einer lebenden Person auf hellerleuchteter Bühne mittels Guillotine". Henker Ringo, der Schreckliche, ist wie immer mit von der Partie.
"Wer bei uns anfängt, kann nicht alle Tassen im Schrank haben", scherzt Manfred Schauer, der bereits seit 1985 Inhaber und Gesicht des Theaters ist. Schließlich könne man das interaktive Hinrichtungsvarieté, eine der ältesten Attraktionen des Oktoberfests, durchaus als einen Mythos bezeichnen - und die rund 400 Vorstellungen pro Wiesn seien beileibe kein Pappenstiel. "Da muss man körperlich wie mental schon fit sein." Deswegen seien bereits einige tolle neue Leute nach kurzer Zeit wieder weg gewesen.
Schauer selbst kam damals als Quereinsteiger aus der Münchner Großmarkthalle auf die Wiesn - "aus einer Intuition heraus" - und musste sich beim Schichtl erst einmal durchbeißen. Das Ensemble habe ihn hinten und vorne geschnitten, erzählt er, es habe geheißen: "Der Depp hat doch null Ahnung." Schon an seinem vierten Tag habe er sich gedacht: "Entweder du meldest dich krank, oder du lässt dir gleich einen Totenschein ausstellen." Aber dann habe es ihn gepackt, "und ich habe das mit großer Energie gegen alle inneren Widerstände durchgezogen". Am Ende hatte das Publikum den neuen Schichtl angenommen - damit war die Sache geritzt. "Den Ritterschlag habe ich dann von der Süddeutschen bekommen", sagt Schauer: Sie nannte ihn den "großen Schaustehler vom Oktoberfest".
Einen solch schwierigen Start aber werde Barbara Stadler sicher nicht haben, prophezeit der Schichtl: "Ich führe sie mit bestem Gewissen ein." Das Kabinett sei zwar durchaus ein eingeschworener Haufen, doch es herrsche große Offenheit und vor allem gegenseitiger Respekt. "Wir sind immer alle füreinander da." Denn selbst er als Schichtl sei ohne die anderen zehn Mitstreiter: gar nichts. "Pumakäfig" heißt der kleine Aufenthaltsraum, in dem sich das Kabinett gemeinsam dem Druck und der Anstrengung stellt. "Was wir auf der Bühne machen, ist naive Kunst, aber unser Umgang miteinander, das ist große Kunst", sagt der Schichtl. Überhaupt sei er sehr stolz auf die "personelle Opulenz" seines kleinen Varietés.
Diesmal wird auch Barbara Stadler mit im Pumakäfig sitzen - und erst einmal den Stallgeruch "inhalieren", wie Schauer das nennt. Vor gut zehn Jahren bekleidete die Anzingerin das hohe Amt der Bayerischen Bierkönigin, sammelte als solche reichlich Bühnenerfahrung und lernte unter anderem eben Manfred Schauer kennen. Offenbar war man sich sympathisch, denn schon kurze Zeit später lud der Schichtl die Wirtstochter ein, an einer Matinee im Brauhaus in Markt Schwaben bei München mitzuwirken. Barbara Stadler mimte also die strenge Gerichtsschreiberin, auf der Anklagebank saßen Walter Brilmayer, damals Ebersberger Bürgermeister, sein Kollege Franz Finauer aus Anzing und Brauhaus-Wirt Adi Warta - der am Ende unter Fallbeil und großem Applaus seinen Kopf verlor.
Diesen Auftritt Stadlers scheint Schauer immer im Hinterkopf behalten zu haben, denn irgendwann rief er bei ihr an und fragte, ob sie nicht ernst machen und beim Schichtl auf der Wiesn einsteigen wolle. "Ich glaub', das war für ihn fast so was wie ein Heiratsantrag", sagt Stadler und lacht. Doch sie zögerte keine Sekunde. "An dieser traditionellen Institution mitzuwirken, ist eine riesen Ehre und Chance für mich", sagt sie. "Und ich würde es immer bereuen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte."
Barbara Stadler habe für den Schichtl-Betrieb die besten Voraussetzungen, konstatiert Schauer. Zunächst einmal stamme sie aus einem "gestandenen Wirtshaus", ihre Familie betreibt den Kirchenwirt in Anzing, außerdem habe sie als Bierkönigin immer eine gute Figur gemacht. 2019 hat Barbara Stadler gemeinsam mit ihrer Mutter das Gasthaus noch um eine bayrisch angehauchte Lifestyle-Boutique erweitert, dort kann man nun hübsche Kleider, Tücher, Täschchen und Deko erwerben.
"Ich mag Tradition und Geselligkeit", sagt die 35-Jährige. Sie habe immer gerne auf der Wiesn bedient, und auch das Schauspielern liege ihr, das habe sich bei diversen Familienfesten und einem Gastspiel beim Anzinger Theaterverein gezeigt. Und sollte es bei Schauer je Zweifel an Stadlers Eignung gegeben haben, so wurden diese beim Bewerbungsgespräch ausgeräumt: "Das hat vier Stunden gedauert, weil wir uns so gut verstanden haben - so was hab ich noch nie erlebt", schwärmt der Schichtl.
Er denke zwar noch lange nicht ans Aufhören, sagt Schauer - "aber schon an Übermorgen"
Ihm ist die Erleichterung über die personelle Verstärkung aus Anzing deutlich anzumerken. Denn gerade jetzt, wo er selbst noch voll im Saft stehe, sei der richtige Zeitpunkt gekommen, um jüngere Hände zu suchen, in die er das Theater einmal legen könne. "Eigene Kinder hab' ich nämlich leider keine." Zwar denke er noch lange nicht ans Aufhören, betont Schauer - "aber eben schon an Übermorgen". Und wenn er nach einem langen Wiesn-Tag auch mal etwas früher Schluss machen könne, sei das sicher nicht verkehrt. Überdies: "Wieso soll nicht mal wieder eine Frau, eine Schichtlin, den Laden schmeißen?" Schließlich hat auch das Tradition: Als der zweite Inhaber Johann Eichelsdörfer 1954 starb, übernahm seine Witwe Franziska und lenkte die Geschicke das Varietés noch bis 1985.
Wo ihre Abenteuerreise Barbara Stadler hinführen wird, ist trotzdem noch ungewiss. "Erst einmal wird sie sich alles anschauen - und dann überall helfen, wo's brennt. Sei es an der Kasse, oder beim Köpfen", erklärt der Chef. Und wenn alles gut laufe, werde er ihr sicher auch mal vor vollem Haus das Mikrofon in die Hand drücken. "Das ist zwar kein Versprechen, aber zumindest ein Plan." Und sollte der 35-Jährigen mal ein Fehler passieren, sei das auch nicht weiter schlimm, ganz im Gegenteil: "Denn aus Fehlern lernt der Mensch nun mal am besten - zumindest, wenn er sie eingesteht." Die Guillotine des Schichtls, die müssen also nur andere fürchten.