Süddeutsche Zeitung

Bewegungskunst in Grafing:Testlauf im Hexenkessel

"Movimento" hat erstmals eine eigene Heimat: ein großes Trainingszelt. Geht es nach den Grafinger Artisten, soll es bald einen festen Platz haben und für Shows zur Verfügung stehen

Von Anja Blum, Grafing

Ein Vier-Mann-Zelt hat wahrscheinlich fast jeder schon einmal aufgebaut. Aber eines, in dem tatsächlich ein ganzer Zirkus Platz hätte? Wohl eher nicht. "Angesichts dieser Dimension hatten wir schon ziemlich Bauchweh", gesteht denn auch Stefan Eberherr. "Aber wir haben es uns getraut - und sind jetzt überglücklich!" Seit August ziert nun schon ein großes, blau-weißes Zelt den Volksfestplatz in Grafing, und dieser Anblick soll bald fest zum Stadtbild gehören. Denn der Bau ist die neue Heimat von Movimento, jener Artistikgruppe aus Grafing, die schon seit mehr als 20 Jahren mit vorbildlicher Nachwuchsarbeit, zahlreichen Auszeichnungen und spektakulären, kreativ-sportlichen Shows überregional von sich reden macht. Gerade erst ist die Truppe dafür mit dem Tassilo-Preis der Süddeutschen Zeitung belohnt worden.

Doch das Problem bisher: Movimento war überall "nur Gast", das heißt, in den Hallen der Grafinger Schulen standen den jungen Artisten jeweils nur wenige, limitierte Zeitfenster zur Verfügung. Und als dann obendrein die Pandemie das Training erschwerte beziehungsweise unmöglich machte, reifte in den Verantwortlichen die Idee eines eigenen Zeltes. "Viele unserer Kinder und Jugendlichen hat es wirklich gebeutelt", erzählt Eberherr. "Dass sie sich wieder treffen, bewegen und wohlfühlen können - das war unsere Motivation."

"Dieses Zelt ist wie ein zweites Zuhause für uns", sagt eine junge Frau

So tummeln sich denn auch etwa 30 Jugendliche in dem Zelt, das über eine große, erhöhte Trainingsfläche samt diversen Gerätschaften verfügt. An einem Gerüst kann man befestigen, was das Artistenherz begehrt, vom Vertikaltuch über Trapez und Luftring bis hin zu einem Mast. Am Boden liegen Matten, auf denen sich die Gruppe zwischendrin auch mal ganz gemütlich für eine Besprechung niederlässt. Aber dann heißt es gleich wieder: Action! Es wird geklettert, gekreiselt, gehoben und gesprungen, wobei die Nähe zwischen den einzelnen Akteuren viel verrät über die Harmonie und Vertrautheit, die in dieser Zirkusfamilie herrschen.

An der Seite, neben der Trainingsfläche, gibt es eine Art wohnliche Lounge, mit Umkleiden, Regalen, Sofas und sogar einer Lichterkette. Am Boden: ein Meer aus Schuhen. "Dieses Zelt ist wie ein zweites Zuhause für uns", sagt eine der jungen Turnerinnen, und ihre Freundin ergänzt, dass die neue Situation zudem sehr motivierend sei: "Wir haben jetzt endlich viel mehr Zeit fürs Training. Das ist toll!"

An diesem Abend wird aber nicht nur gesportelt, sondern auch viel geredet, denn Movimento hat Sponsoren, Politiker und Journalisten zur Zelteröffnung geladen. Eberherr erzählt von der Entstehung des Projektes, von den aktuellen Problemen und allen weiteren Plänen - schließlich soll die Reise in diesem blau-weißen Rund noch nicht so bald zu Ende sein.

Zwar wird das Zelt Ende Oktober abgebaut und zum Überwintern eingelagert, doch vom kommenden Frühling an soll es den Artisten wieder eine Heimat bieten. "Unsere Vision ist, es zu einer dauerhaften Bereicherung werden zu lassen", so Eberherr. Sprich: Das Zelt soll künftig das ganze Jahr über in Grafing stehen. Denn das würde nicht nur den rund 160 Artisten von Movimento zugute kommen, sondern letztlich allen Sportlern in Grafing. Erstens, weil dann die anderen Hallen entlastet würden, und zweitens, weil dann im Zelt, vormittags etwa, auch Angebote für Senioren oder kleine Kinder stattfinden könnten.

Gleich in der ersten Nacht gab es ungebetene Gäste

Doch bis es tatsächlich soweit ist, muss noch einiges geschehen, es müssen ein geeigneter Ort sowie juristische und technische Lösungen gefunden werden. Denn wirklich winterfest ist das Zelt noch nicht, und auf dem Volksfestplatz ist Movimento wieder mal nur Gast. Außerdem müssen sogenannte fliegende Bauten eigentlich nach jeweils drei Monaten wieder abgebaut werden. Die Hürden sind also hoch - doch alle Beteiligten zeigen sich optimistisch, sie aus dem Weg räumen zu können, von Bürgermeister Christian Bauer über Brigitte Keller vom Landratsamt bis hin zu Anna Hopfes, Chefin des TSV Grafing, zu dem Movimento gehört.

Wäre ja auch zu schade, wenn die Zelt-Vision bald wieder in sich zusammenfallen würde, schon allein der Kosten wegen, die Eberherr bei etwa 140 000 Euro veranschlagt. Ermöglicht wurde das Projekt übrigens durch das Bundesprogramm "Neustart Kultur", in dem es auch eine Kategorie "Zirkus" gebe, wie der Movimento-Gründer erläutert. "Wir mussten da zwar sehr viel argumentieren, haben aber durchgehalten." So konnte die eine Hälfte von Zelt und Ausstattung finanziert werden, die andere bestritten die Movimentos selbst, mit großzügiger Unterstützung der Stadt. Dieser ist man obendrein sehr dankbar für tatkräftige Hilfe seitens des Bauhofs, der beim Aufbau des Vier-Mast-Zelts mit schwerem Gerät anrückte, um die vielen Hände zu entlasten. "Das ist eine sehr fleißige Familie", zollt Bauhofchef Marinus Greithanner den Artisten Respekt.

Trotzdem gab es schnell unerwartete Probleme. Gleich in der ersten Nacht tauchten ungebetene Gäste auf, die jedoch von einem im Zelt schlafenden Movimento-Grüppchen vertrieben konnten. Mittlerweile gibt es einen Bauzaun, Kameras und eine Alarmanlage. Am Morgen dann lagen die Rucksäcke im Wasser, das sich wegen des unebenen Bodens seinen Weg ins Zelt gebahnt hatte. Heute verhindern das diverse Sandsäcke und ein kleiner "Burggraben". Allerdings haben die Movimentos, gerade abends, immer noch mit Kälte und Feuchtigkeit zu kämpfen, wenn es besonders schlimm kommt, regnet es von der Decke. "Eine Heizung haben wir jetzt schon, aber an der Luftzirkulation müssen wir noch arbeiten."

Aber genau so war es auch gedacht: Diese ersten drei Monate sollen dazu dienen, Erfahrungen rund um das Zelt zu sammeln, um später einen längeren, wenn nicht gar dauerhaften Betrieb bewerkstelligen zu können. Es ist also eine Testphase, doch das Zelt wird schon jetzt intensiv genutzt, die Gruppen seien momentan alle ausgelastet, sagt Eberherr, es herrschte Aufnahmestopp. "Bis Ende Oktober werden wir hier also noch voll trainieren, arbeiten, leben." Und geht es nach den Movimentos, so wird das Zelt in naher Zukunft auch für die Öffentlichkeit ein Anziehungspunkt sein: "Wir wollen hier unsere Shows etablieren", sagt Eberherr. Man habe extra ein Zelt mit hoher Außenwand bestellt, um Platz zu haben für eine große Tribüne. 300 Zuschauer sollen hier einmal sitzen, klatschen und staunen können. "Ein echter Hexenkessel!"

Das ist noch Zukunftsmusik, freilich, aber sie klingt ausgesprochen gut. Wer indes nicht so lange warten will, darf sich schon mal auf den Januar 2022 freuen, da ist eine Nummern-Revue mit Nachwuchsartisten im Alten Speicher in Ebersberg geplant. Und im Juli lädt Movimento ebenda - so alles gut geht - zur "Masquerade". Diese Konzept-Show, geplant bereits seit 2019, will die Zuschauer "mitnehmen auf eine Reise zwischen Realität und Traumwelt" - wobei das Thema "Maske" mittlerweile freilich eine zweite, ganz aktuelle Bedeutung gewonnen hat. Man darf also gespannt sein, was sich die jungen Artisten dazu so alles einfallen lassen.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2021
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