Süddeutsche Zeitung

Mobilitätsprojekt:Fahrerlos durch Grafing

In einem zweijährigen Forschungsprojekt wird geprüft, wie ein autonomer Shuttlebus im Stadtverkehr eingesetzt werden könnte.

Von Thorsten Rienth, Grafing

Am Busparkplatz in Grafing Bahnhof könnte das Shuttle in Richtung Schammacher Gewerbegebiet abfahren. Von dort ginge es via Glonner Straße zum Grafinger Marktplatz - und dann mit einer Schleife über die Bahnhofstraße nach Grafing-Bahnhof zurück. Gut sechs Kilometer wäre das selbstfahrende elektrische Shuttle unterwegs, abhängig von der genauen Streckenführung. Noch ist dies Zukunftsmusik, allerdings eine nicht mehr allzu ferne: In drei bis vier Jahren schon könnte das Vorhaben den Grafinger Nahverkehr auf eine neue Ebene heben.

Der Mann, der die Zeitachse so skizziert, hat einen guten Einblick. Von seinem Schreibtisch im "Gefreiten Haus" am Marktplatz muss sich Günter Müller nur umdrehen und aus dem Fenster schauen. Oder zu den Entwicklern hinübergehen, die ein paar Türen weiter sitzen. Müller ist Gründer des Simulationsspezialisten Cadfem. Angefangen in den 1980er Jahren mit einer Ein-Mann-Firma, hat er daraus die Cadfem Group geformt, ein 530-Mitarbeiter-Unternehmen mit Standorten in 20 Ländern. Als Senior mit einem Faible für Start-ups kümmert er sich nun um Themen abseits des Tagesgeschäfts. Zum Beispiel: Um aus seiner Kleinstadt eine Übermorgenkleinstadt zu machen.

Der Arbeitstitel des Grafinger Forschungsprojekts lautet "Plimos". Die Abkürzung steht für: Planung intermodaler Mobilitätsangebote basierend auf 3D-Stadtmodellen. Zwei Jahre wird das vom Zentrum Digitalisierung im Bayerischen Wirtschaftsministerium geförderte Verbundforschungsprogramm laufen. Die Lehrstühle für Verkehrstechnik und Geoinformatik der Technischen Universität München (TUM) sind eingebunden. Zudem die DB Regio Bus als möglicher späterer Betreiber der Shuttles. Die Stadt Grafing als assoziierter Partner. Und eben die Cadfem Group.

Genaugenommen sind die Grafinger sogar zweimal an Bord. Zum einen mit ihren Simulationsexperten. Zum anderen mit der Tochtergesellschaft Virtual City Systems aus Berlin in Kooperation mit der Holzkirchner 3D Mapping Solutions GmbH. Sie erfassen die Fahrtroute mit Kamerafahrzeugen und erstellen daraus eine digitale dreidimensionale Grafing-Kopie. "Digitaler Urbaner Zwilling" lautet der Fachbegriff. Der Zwischenschritt ist nötig, weil die E-Shuttles unmöglich im realen Verkehr erprobt werden können. "Wir weichen auf ein virtuelles Testfeld mit einer Schnittstelle zwischen Shuttle-Software und dem 'Urbanen Zwilling' aus", erklärt Müller. Perspektivisch fast noch wichtiger: "Wenn das Modell dahinter einmal validiert ist, kann es als Basis dienen für viele ähnliche Vorhaben im ländlichen Raum."

Die Entwickler im "Gefreiten Haus" erstellen es, in dem sie das E-Shuttle in der virtuellen Testumgebung wochenlang zwischen Grafing und Grafing-Bahnhof kreisen lassen. Unzählige Was-wäre-wenn-Szenarien werden die Entwickler dabei simulieren. Rechenschritt für Rechenschritt wollen sie das Blaupausen-Modell zusammensetzen.

Jede Vorfahrtsregel ist darin implementiert, jedes Straßenschild, jede Ampel, jeder denkbare Verkehrsteilnehmer. Oder ein über die Straße rollender Fußball. Alles muss die Kamera- und Lasersensorik auf dem E-Shuttle verlässlich detektieren - und die Shuttle-Steuerung die richten Schlüsse daraus zu ziehen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Im Nebel. Bei Schneegestöber.

Keine Frage: Bei alldem fahren natürlich so einige Unwägbarkeiten mit. "Eine große Herausforderung ist zum Beispiel das Thema Linksabbiegen", sagt Günter Müller. "Aber da werden wir uns herantasten, da werden wir eine Unwägbarkeit nach der anderen beseitigen." Oder eben, Stichwort künstliche Intelligenz, die selbstlernende Software.

Wenn das Shuttle in der Simulationsumgebung stabil genug durch Tag und Nacht und Sommer und Winter fährt, folgt der entscheidende Schritt. Es geht, zunächst noch mit Begleitpersonal, auf die realen Grafinger Straßen. In der Endausbaustufe soll das Shuttle dann autonom unterwegs sein, also komplett selbstfahrend. Wohl erst dann werden die Entwickler so richtig bewerten können, wie gut sie waren. Und wohl erst dann dürfte sich auch entscheiden, ob - und wenn ja: wie schnell - das Vorhaben Traktion erzeugt, sprich: vom Testprojekt zum realen Nahverkehrsprojekt avanciert.

Die Routenführung der Testumgebung wäre schon mal kein Zufall. Der Weg über die beiden Grafinger Bahnhöfe ist Müller zufolge für die Anbindung an den übergeordneten Personennahverkehr unerlässlich. Zudem würden grob gerechnet etwa drei Viertel der Grafinger Stadtbevölkerung innerhalb von 500 Metern entlang der Strecke wohnen. Der Schlenker übers Gewerbegebiet würde die dortigen Arbeitsplätze anbinden.

Ob die angedachten sechs bis zehn Shuttle-Passagierplätze für eine 14 000-Einwohner-Stadt nicht ein bisschen wenig seien? Müllers Antwort kommt als Gegenfrage. Wer sage denn, dass am Ende nur ein Shuttle alleine seine Runden drehe? Wie ein optimales Grafing-Konzept aussehen könnte, gehöre natürlich genauso zum Forschungsprojekt.

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Quelle:
SZ vom 24.04.2021
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