Mobbing in der Schule:Stationen eines Leidensweges

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Ein harter Stoß mit der Faust vor die Brust und eine Reihe von Angriffen und Demütigungen: Marie ist seit Jahren Mobbing-Opfer.

Sophie Rohrmeier

"Ich hasse Dich." Ein harter Stoß mit der Faust vor die Brust. Das ist vorläufiger Höhepunkt der Verachtung, die Marie (Namen von der Redaktion geändert) seit fast zwei Jahren erträgt. Seit Ende der ersten Klasse wuchs ihre Isolation, nahmen die Bosheiten ihrer Mitschüler zu. Aber erst dieser Übergriff auf das Mädchen, das inzwischen die dritte Klasse einer Grundschule im Landkreis besucht, alarmiert die Schulleitung.

Mobbing wird auch in Grundschulen zunehmend ein Problem. (Symbolbild) (Foto: dpa)

Erst jetzt reagiert man - mit der Versetzung Maries in eine andere Klasse. An vielen Schulen haben Lehrer, Eltern und Sozialarbeiter mit Mobbingfällen wie diesem zu kämpfen. Und oft genug ist die Eskalation erst der Anfang vom Ende.

"Das Kind ist oft schon in den Brunnen gefallen, wenn wir von den Angriffen hören", gibt etwa Jörg Cordruwisch, Jugendpfleger in Vaterstetten, zu. Damit benennt der Sozialpädagoge eines der großen Probleme, wenn es um Mobbing geht: Erst wenn die Übergriffe über Wochen oder Monate hinweg erfolgen, gelten sie als Mobbing. Mit diesem Aspekt der Definition geht einher, dass es oft schon zu spät ist, um eine Eskalation zu verhindern.

Auch in Maries Fall war es so. Eine lange Vorgeschichte ging in eine Leidensgeschichte über. Als Marie mit ihrer Kindergartenfreundin Leonie gemeinsam in die erste Klasse kam, ging nur Marie jeden Nachmittag in den Hort. "Leonie hat mit den anderen Mädchen aus der Klasse Bande geknüpft." Maries Mutter erinnert sich an die Anfänge einer Gruppendynamik, die Marie außen vor ließ. Zugleich habe sich Leonie als Maries "Beschützerin" benommen, so die Mutter. Auch in der Klasse habe sie Marie gegen Sticheleien verteidigt.

"Im ersten gemeinsamen Schuljahr steht das Netzwerk einer Klasse meist schon bis Weihnachten fest", so Mechthild Schäfer. Sie betreibt Mobbingforschung an der LMU München. Es gebe in jeder Gruppe Personen, die sich dominant verhalten, so Schäfer. "Das ist an sich nicht negativ." Die Aggressivität erst mache Mobber aus: "Das sind kleine Machiavellisten à la Mehdorn: Sie kommen mit prosozialen Strategien an die Macht - aber im Notfall gehen sie über Leichen." Es komme also auf die Fähigkeit der Lehrer an, Grenzen zu setzen. "Der Lehrer muss der Bestimmer sein, sonst gibt das Kind den Ton an."

In Maries Klasse bestimmte - neben Leonie, die sich gegenüber Marie als die Stärkere positionierte - vor allem ein Mädchen. Sie habe gegen Marie gehetzt, so Maries Mutter, die sich nicht erklären kann, warum ihre Tochter zum Opfer wurde. "Marie ist mit einem guten Selbstbewusstsein ausgestattet." In der Nachbarschaft und im Hort hatte sie Freunde. Nur in der Schule nicht, hier hatte sie nur Leonie. Tolle, teure Klamotten waren wichtig.

Marie wird in der zweiten Klasse zunehmend isoliert. "Du siehst scheiße aus", sagen die anderen Mädchen zu ihr. Die Mimik, von der die verbale Abwertung begleitet ist, setzt noch eins oben drauf. Zu Maries Geburtstag kommen alle. "Aber am nächsten Tag musste sie wieder die gleichen Schmähungen ertragen", so Maries Mutter. "Sie selbst wurde nie eingeladen."

Die Wissenschaft ist sich einig: Es geht nicht um das Wesen des Kindes, das Opfer wird. Mobbingberater und Sozialpädagoge Frank Schallenberg sagt: "Jeder kann Opfer sein" - und an jeder Schule. Das bestätigt Jugendpfleger Jörg Cordruwisch. Er war beteiligt an der Leitung der Jugendraumanalyse in Vaterstetten, einer Online-Befragung der Schüler an der Volks- und Realschule sowie am Gymnasium Vaterstetten. "Eines kann man schon jetzt sagen: Das Thema Mobbing rangiert ganz weit oben, an allen drei Schulen", so Cordruwisch. Und laut Schallenberg nimmt Mobbing auch an Grundschulen zu. Maries Mutter überraschte "das überlegte Verhalten hinter der Inszenierung - in dem Alter". Maries Stellung in der Klasse wurde systematisch geschwächt; erst das hatte die Schwächung von Marie selbst zur Folge.

"Oft handelt es sich um Kinder, die auch uns Erwachsene herausfordern", so Schallenberg. "Wir müssen vorsichtig sein, wie wir diese Kinder beschreiben." Falsche Worte gäben dem Kind das Gefühl, selbst schuld zu sein. Auch deshalb ist das Problem des späten Eingreifens so weitreichend. Denn die Erwachsenen haben dann bereits ein Opfer vor sich. In der Praxis werde deshalb oft "Ursache und Wirkung durcheinander geworfen", so Schäfer von der LMU. Schulpsychologen sollten sich nicht wundern, wenn ein verhuschtes Kind vor ihnen stehe. "Wie sollte es anders sein, wenn man so behandelt wird?"

Maries Kontakte im Hort und ihre innere Stärke schützten sie einige Zeit. Aber so erkannten die Erwachsenen lange nicht das volle Ausmaß der Ausgrenzung. Am Ende der zweiten Klasse, verließ Leonie die Schule. "Dann war Marie ganz allein", erzählt ihre Mutter. Auf dem Schulhof darf sie nicht mitspielen. Niemand will neben ihr sitzen. Sie versucht, mitzuhalten. Bettelt bei der Mutter um teure Schuhe. Als sie sie endlich bekommt, verspotten sie die anderen der Farbe wegen. "Sie konnte nichts recht machen", sagt Maries Mutter, die mit ihrer Tochter litt.

Der Druck auf Marie wurde größer, aber zu Hause sagte sie wenig. Ihre Unbeschwertheit wich quälenden Morgenstunden, in denen sie vor dem Kleiderschrank stand und versuchte, sich so zurechtzumachen, dass sie den Tag vielleicht ohne Anfeindungen überstehen könnte. Betroffene Kinder hören auf, zu Hause zu erzählen, sie verändern sich. "Und dann brechen die Noten ein", so Mobbingberater Schallenberg. Auch Marie schreibt plötzlich Fünfen, kann sich nicht mehr konzentrieren. Was die Opfer aushalten müssen, bezeichnet Schallenberg als "schizophren": "Der Täter teilt mir mit, er wolle nichts mit mir zu tun haben. Aber er setzt sich täglich intensiv mit mir auseinander." Die Situation ist ausweglos, die Opfer können sich ohne Hilfe nicht aus ihrer Rolle befreien.

In der dritten Klasse spitzte sich Maries Lage weiter zu. Die neue Klassenlehrerin "kapitulierte", meint Maries Mutter. Der körperliche Übergriff und die Worte "Ich hasse dich" sind schließlich zu viel. Kurz vor dem Schlafengehen bricht Marie weinend zusammen - zum ersten Mal. "Mama, ich halte es nicht mehr aus. Ich muss die Klasse wechseln." Erst jetzt scheint Marie selbst zu begreifen, wie zerstörerisch die anderen auf sie eingewirkt haben.

Kinder warten oft lange, bis sie sich mitteilen. Das liege am sozialen Umgang mit Opfern, meint Schallenberg. "Wo das Schimpfwort Opfer funktioniert, mangelt es an der gesellschaftlichen Anerkennung des Rechts, um Hilfe zu bitten." Als Maries Mutter am nächsten Morgen in die Schule eilt, ist die Klassenleiterin bereits beim Direktor gewesen. "Ich verliere Marie", habe die Lehrerin gesagt. Marie wurde in die Parallelklasse versetzt. Die schlechten Noten und die Attacke drängten die Schule zur Sofortmaßnahme. Eine späte Intervention.

Der inzwischen inflationäre Gebrauch des Begriffes Mobbing und die hohe Aufmerksamkeit für das Thema sorgen zwar für Sensibilität. Andererseits werden berechtigte Klagen eventuell überhört. Zudem ist Mobbing wegen der meist nonverbalen Gewalt schwer nachzuweisen. Die Übergriffe finden vor oder nach der Schule und in den Pausen statt, zunehmend auch im Internet, wie der öffentlich diskutierte Fall von "I share gossip" zeigt. "Das erschwert uns Lehrern den Zugang", sagt Manuela Strobl, Schulleiterin der Volksschule Vaterstetten.

Maries Mutter ist froh, dass letztlich gehandelt wurde: "Es ist gut, dass die Lehrerin nichts vertuscht hat". Und Marie sei in der neuen Klasse aufgeblüht. "Jetzt kann ich endlich anziehen, was ich will" - so erleichtert sei Marie gewesen. Doch Maries Mutter weiß auch: Die Maßnahme war ein bequemer Weg. "Jetzt haben alle dort ihre Ruhe - auch die Mobbingklasse."

Dieser Weg wird nicht selten gewählt. An der Vaterstettener Volksschule hat ein Opfer in letzter Konsequenz die Schule auf eigenen Wunsch verlassen. Ähnliches wird vom Grafinger Gymnasium berichtet. Doch nicht immer ist mit einer Versetzung die Situation aufgelöst. "Intervention hat geringe Chancen", so Mobbingforscherin Mechthild Schäfer. Das erlebt auch Jörg Cordruwisch, der Praktiker aus Vaterstetten: "Die Täter hören oft auch nach Sanktionen nicht auf." Opfer werden häufig wieder Opfer, Täter finden neue "Unterlegene". Deshalb kann die Entfernung von Opfer oder Täter nur die Notlösung sein.

"Prävention ist das A und O", sagt Cordruwisch. Er nutzt seine 19,25 Stunden als Jugendsozialarbeiter an der Volksschule Vaterstetten intensiv. "Anfangs habe ich jede Klasse über Mobbing aufgeklärt" - eines der Themen, für die er zuständig ist. Die Zeit reicht nicht, um Prävention in allen Fällen, Intervention und Nachsorge im Einzelfall zu bewerkstelligen. "Ich komme kaum nach." Mit Filmen, Rollenspielen und Gesprächen will er verständlich machen, was Mobbing anrichtet. "Wir sind auf einem guten Weg, es herrscht eine große Sensibilität und deshalb haben wir wenig Fälle", so Cordruwisch. Die Arbeit an der Schule ist zentral: "Ich bin jeden Tag da, wo richtig viel abgeht" - und er greift sofort ein. "Dann bin ich auch knallhart."

Auch an der Baldhamer Realschule und am Grafinger Gymnasium will man offen mit der Problematik umgehen: "Wir haben immer wieder Fälle", sagt Dorothea Weigert-Fischer, Direktorin der Baldhamer Realschule. Auch am Grafinger Gymnasium kommt Mobbing vor, auch wenn es "kein brennend heißes Thema ist", so Marij Krill, Vorsitzende des Elternbeirats. "Wir wollen nicht behaupten, bei uns gäbe es kein Mobbing." Die Schule habe ein Beratungsnetzwerk. "Die Lehrer werden von Schulpsychologen unterstützt und bilden sich fort."

Diese Möglichkeit haben Lehrer etwa an der Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen. Sie können sich auch an regionale Schulberatungsstellen wenden. Maries Mutter fragt sich aber, wie eine ausgebildete Grundschulpädagogin so hilflos sein könne wie Maries Lehrerin. Auch Mechthild Schäfer von der LMU attestiert dem System Mängel: "Wenn es die Schule versemmelt, ist das administratives Mobbing."

Auch Sabine Fleischmann, Schulleiterin an der Volksschule Poing und Vorstandsmitglied des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), macht die Bildungspolitik verantwortlich: "Es fehlen Ressourcen. Um die Opfer zu betreuen, brauchen wir viel Zeit - und Profis." Fleischmann fordert Geld für Prävention und Intervention, aber auch für Supervision: "Lehrer müssen sich austauschen und Rat holen können." Der Landtag müsse für die entsprechende Gesetzgebung sorgen.

Die Ursachen für Mobbing sieht Fleischmann vor allem im leistungsorientierten Schulsystem: "Es schafft Klassen von Menschen. Kinder sagen Dinge wie: Der kleine Blöde kommt auf die Hauptschule." Die Bewertung mit Noten lasse die Individualität des Menschen außer Acht. Diese Leistungsorientierung ist auch für Frank Schallenberg ein Grund für die Ich-Bezogenheit vieler Kinder. Sie können so zu Tätern werden, die sich selbst stark fühlen und oft als selbstbewusst beschrieben werden. "Kinder kennen schon im Grundschulalter die Wirkung ihrer Taten".

Deshalb sei es falsch, sie "in Watte zu packen", die betroffene Klasse wisse ohnehin Bescheid. "Der Täter muss begreifen, dass seine Taten bemerkt werden und Folgen haben." Die Mitglieder der Gruppe müssen Verantwortung übernehmen, um das Opfer zu stützen. Es braucht die Solidarität der Klasse und der Erwachsenen. "Lehrer haben eine pädagogische Plicht auch gegenüber den Tätern", so Mechthild Schäfer. Die Bedingung müsse sein, dass die Regeln befolgt werden. "Denn alle, auch die Täter, wollen Teil der Klasse sein."

© SZ vom 28.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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