Das Tor zur Hölle soll sich ja in Turkmenistan befinden, inmitten der Karakum-Wüste. Dort ist ein Krater von stattlicher Größe, ungefähr 70 Meter misst sein Durchmesser. Von seinem Grund steigen unzählige Gasfeuer empor. Vor gut 50 Jahren ist der lodernde Krater durch einen Bohrunfall entstanden – Pardon: hat man das Tor zur Hölle bei einem Bohrvorhaben entdeckt. Schenkt man den traditionellen Vorstellungen im Christentum Glauben, dann muss sich dort ein Ort der Qual befinden. Schließlich wird die Hölle als genau das beschrieben. Oder aber es ist alles ganz anders.
Es ist ein früher Nachmittag Ende August. Nach nicht einmal eineinhalb Stunden Fahrt kommt der ICE von München auf seinem Weg nach Hamburg auf Gleis 6 am Nürnberger Hauptbahnhof zu seinem zweiten Halt – denn manchmal geht die Reise nicht in die Ebersberger Redaktion, sondern in den hohen Norden. Einige Passagiere steigen aus, andere ein, Koffer und Rucksäcke sind längst alle verstaut, freie Sitzplätze gefunden – doch der Zug bleibt weiterhin stehen.
Hoffentlich nichts mit dem Stellwerk. Oder der Lok. Oder der Oberleitung. Oder einem vorausfahrenden Zug. Oder dem Personal. Oder dem Gleis. Oder Tieren auf der Trasse. Oder starkem Schneefall. Oder Glätte. Oder ... es gibt unzählige Möglichkeiten, warum sich ein ICE der Deutschen Bahn verspätet. Als Vielfahrerin in Fernverkehrszügen hat man sie alle schon erlebt.
Doch nichts dergleichen ist der Fall. „So, liebe Fahrgäste, wir haben in Nürnberg jetzt leider eine Verspätung von sieben Minuten angesammelt, weil eine Frau ihren Mann nicht mehr gefunden hat“, klingt es da aus den Durchsagelautsprechern in Waggon 27. Das ist dann selbst für die Vielfahrerin neu.
Eigentlich ist die Sucherei des Ehepaares aber gar nicht so bahnbrechend, weil es unter all den Verspätungsgründen mal ein noch nie dagewesener ist, sondern weil sie eines offensichtlich macht: Die ersten Fahrgäste zeigen kognitive Ausfallerscheinungen, sie sind verwirrt und auf Hilfe angewiesen. Das verwundert nicht, denn hier, in Waggon 27, ist es unerträglich heiß. Das T-Shirt klebt schon seit Ingolstadt am Rücken. Die Fensterscheibe und der linke Oberarm haben sich zu einer klebrigen Symbiose vereint. Alle paar Minuten blinzeln die Wimpern Schweißperlen aus den Augen. Vielleicht sind es auch Tränen der Qual, schwer zu sagen. Und der Kaffee gegen die einsetzenden Kopfschmerzen macht das Elend auch nur noch schlimmer.
Eines ist gewiss: Die Zugfahrt an diesem Tag führt nicht in den Norden Deutschlands. Das kann passieren bei der Bahn. Da ändert sich spontan ja auch mal das Abfahrtsgleis oder die Wagenreihung. Warum also nicht das Ziel? Statt nach Hamburg geht’s halt jetzt direkt in die Hölle. So heiß, wie es schon jetzt ist, kann eben jene unmöglich in der gut 4000 Kilometer entfernten Karakum-Wüste liegen. Wahrscheinlicher ist, dass das Tor zur Hölle Waggon 27 ist.