Wer jung ist, muss noch einigen Aufwand betreiben für den gewissen Kick, der Abwechslung zum öden Alltag bringt. Da stürzt man sich an Gummiseilen Brücken hinab, fährt mal eben mit dem Rennrad zum Kaffeetrinken an den Gardasee oder nimmt an 48-Stunden-Wanderungen teil. Ist man älter, reicht eine Radltour zum Starnberger See zum Auspowern und für das Gipfelglück bemüht man auch schon mal die Seilbahn. Und wenn man dann noch etwas länger gelebt hat, vielleicht sogar schon den 90. Geburtstag gefeiert hat, genügt ein Ausflug mit der S-Bahn von Markt Schwaben nach Ebersberg, um gehörig das Adrenalin in die Höhe zu treiben. So ist das bei der zierlichen alten Dame, die am Montagmorgen etwas Wichtiges bei der Krankenkasse zu erledigen hat.
Akribisch hat sie sich ihre Anschluss-Verbindungen aufgeschrieben, den Zettel in ihre Dokumentenmappe gesteckt und diese gut in der großen braunen Handtasche verstaut. Schon im Zug von München erkundigt sie sich sicherheitshalber mehrmals bei unterschiedlichen Quellen, ob dieser denn auch tatsächlich Ebersberg ansteuere: "Wissen s', ich bin nämlich schon 90!" Eine stützende Hand schadet da beim Aussteigen gar nicht, da tut's zur Not auch die der nächstbesten Mitfahrerin, die kurzerhand auch als weitere Begleiterin für den Weg in die Innenstadt akquiriert wird: "Wissen's, ich bin nämlich schon 90!"
Langsam setzt sich das Paar in Bewegung, trippelt im Gleichschritt über die Ampel, schleicht durch die Altstadtpassage. Doch irgendwann beäugt die alte Dame ihre Kurzzeit-Weggefährtin, bei der sie sich untergehakt hat, misstrauisch: "Gell, Sie sind auch nicht so gut beinand?" Ein bisschen Mitleid schwingt da mit, echte Anteilnahme sieht man in den dunkelbraunen Augen. Wie sie denn auf diese Idee komme, fragt man zurück. "Ja, weil Sie so langsam gehen!" Ein bisschen mehr Schwung darf's dann wohl schon sein - auch wenn man schon 90 ist.