Mitten in der S-Bahn:Fünf Minuten Weltuntergang

Als umtobten die Reiter der Apokalypse den Zug, so fühlt sich die S-Bahn-Fahrt am Dienstagabend an. Am Ende gibt aber nur einer den Geist auf

Glosse von Jörg Lehne

Es beginnt mit einer finsteren Wolkendecke, die sich langsam, fast schleichend über die Dächer von Ebersberg und den Bahnhof stülpt. Gleich fährt die S-Bahn Richtung Tutzing. Während eine Traube von Menschen Richtung Zug eilt, taucht der Himmel die Welt um sie herum in fahles Licht. Alle hoffen, dem Regen noch entkommen zu können, aber stattdessen beginnt Hagel auf das Dach des Zuges niederzuprasseln. Rhythmisch zunächst, doch innerhalb von Sekunden sind die gestrandeten Passagiere eingehüllt sind in ein ohrenbetäubendes Hämmern und Tosen, jedes der herabfallenden Eiskörner so groß wie ein Gummigeschoss.

Unterdessen hat der Regen begonnen und überzieht die Fensterscheiben mit einem dichten Schleier. Durch den Vorhang aus Eis und Wasser zeichnen sich schemenhaft Bäume ab, die vergebens versuchen, gegen den stürmenden Wind anzukämpfen. Danach folgt Dunkelheit. Erst ein Flackern der Deckenbeleuchtung, dann schimmert die S-Bahn kurz in dem schaurig grünem Licht der Türsignale, bevor die Elektronik versagt. Die Fahrgäste harren in der Finsternis der Kabine aus und blicken nach draußen, während das Unwetter wie die vier Reiter der Apokalypse über die Stadt hereinbricht, um das Ende der Welt zu verkünden.

Für ganze fünf Minuten zumindest.

So dramatisch, wie es begonnen hat, so abrupt ist es zu Ende. In der Kabine zeugen nur einzelne Tropfen, die mit einem trockenen Geräusch auf die blaubezogenen Sitze fallen, von dem durchstanden Sturm. Bevor man Zeit hat, sich zu fragen, warum Wasser von der Decke fällt, wie bei einem undichten Wellblechdach, bittet der Zugführer die Passagiere mittels Durchsage um Verständnis, die Weiterfahrt werde sich noch um einiges verzögern. Kurz danach fügt er an, der Zug müsse aus- und wieder eingeschaltet werden. Nein, nichts hilft. Der Zug fährt heute nicht mehr.

Die eigene Freude, im Angesicht des gerade Erlebten noch am Leben zu sein, weicht Ernüchterung. Ein anderer Zug bringt die Reisenden bis nach Grafing, weiter nicht, denn in wenigen Minuten hat der Sturm das gesamte Schienennetz zwischen Grafing-Bahnhof und München Ost lahmgelegt. Für die neu gestrandete Truppe Reisender ist die Zeit der Prüfungen noch nicht durchstanden. Aus den Lautsprechern des Bahnhofs erschallt bereits eine metallisch verzerrte Stimme: "Der Schienenersatzverkehr ist schon bestellt."

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