Mitten in der Region:Der Brief von Frau H.

Die schöne Schrift auf dem Kuvert weckt Erwartungen. Doch leider kommen Schreiberin und Empfänger dann doch nicht recht zusammen

Kolumne von Gregor Schiegl

Nach dem Urlaub war ein Brief von Frau H. im Briefkasten. Der volle Name tut nichts zur Sache, denn Frau H. kennt ohnehin niemand. Vielleicht eine neue Nachbarin? Oder eine alte Nachbarin mit neuem Mann, so was soll's geben. Frau H. hatte sich die Mühe gemacht, einen handschriftlichen Brief "An die Familie S." zu verfassen, was schon auf eine gewisse Vertrautheit schließen lässt, denn auf dem Briefkastenschild stehen noch zwei Namen und zwar nicht müller-lüdenscheitlich gekoppelt, sondern durch einen Querstrich getrennt - ein Relikt aus den schon lange zurückliegenden Tagen wilder Ehe.

Gewöhnlich schicken einem weder Ordnungs- noch Finanzamt handschriftliche Briefe, das tun nur sehr alte Verwandte oder Freunde, die etwas Frohes mitzuteilen haben, etwa dass der kleine Jean-Marcel putzmunter auf die Welt gekommen ist und dass er, wie gesagt, jetzt Jean-Marcel heißt. Etwas Ähnliches erwartet man, wenn man den handschriftlichen Brief von Frau H. öffnet. Sie beginnt mit dem bedauernden Satz, dass sie einen leider nicht persönlich angetroffen habe, was man ihr gerne glaubt; man war ja im Urlaub, weil man auch mal eine Pause braucht von Daheim - und vor allem vom In-der-Arbeit-angetroffen-Werden. Die Rührung über so viel persönliche Ansprache weicht aber bereits mit dem nächsten Satz: Frau H. möchte, wie sie in Schönschrift mitteilt, mit uns ein Gespräch über die Bibel führen. Wie die meisten wissen, ist die Bibel ein sehr dickes Buch, in dem allerhand steht, ellenlange Stammbäume zum Beispiel, Plagen, Sinnsprüche, sogar recht unverblümte Sexszenen. Über letztere will Frau H. vermutlich nicht reden.

Der Verdacht, dass man es mit einer Zeugin Jehovas zu tun hat, bestätigt sich prompt durch den handschriftlich beigefügten Link. Auf der Jehova-Seite werden Fragen gestellt wie "Hat Gott sich der Evolution bedient, um die unterschiedlichen Lebensformen zu erschaffen?" Das kann man sofort bejahen. So hat er in seiner unendlichen Weisheit auch eine Lebensform erschaffen, die keine Lust hat, über die Bibel zu sprechen. Nicht mal mit Menschen, die mit so einer schönen Handschrift gesegnet sind wie Frau H.

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