SZ-Adventskalender:"Jeder könnte jemand sein, der mir wehtut"

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Eine Kindheit, die keine Kindheit ist, kann zur Entwicklung einer dissoziativen Störung führen. (Foto: Uwe Zucchi/dpa)

Tobias P. leidet nach Missbrauchserfahrungen in seiner Kindheit an einer dissoziativen Störung. Eine Traumatherapie bedeutet für ihn den Weg zurück in die Gesellschaft - doch die Fahrkarte dorthin kann er sich kaum leisten.

Von Alexandra Leuthner, Ebersberg

Es war nicht sicher, ob es mit einem Treffen überhaupt klappen würde - so wie es auch nie sicher ist, wie ein Gespräch mit Tobias P. (Name geändert) verläuft. Ob er am Ende noch derselbe ist wie am Anfang. Dissoziative Identifikationsstörung nennen das die Ärzte. Die Betreuerin bleibt deshalb an seiner Seite. Wer ihn nicht kenne, erklärt sie, merke die Veränderung unter Umständen gar nicht, sowenig wie er selbst. Also hat sie ein Auge auf ihn, hebt schon mal die Hand, wenn sie das Gefühl hat, dass er sich zu nah an das heran begibt, was ihn peinigt und triggern könnte.

Tobias P., ein Mann Mitte 50, gepflegt gekleidet, streckt die Hand aus zur Begrüßung, das schafft er inzwischen, so viel Berührung kann er zulassen. Sympathisch ist er, und schon nach wenigen Sätzen ist klar: höchst intelligent, sehr beredt. Aber auch höchst kaputt. So beschreibt P. sich selbst. Manchmal erzählt er von sich mit einem kleinen Lachen, aber vielleicht auch nur, damit die Tränen, die er sich ständig aus den Augenwinkeln wischt, nicht richtig ins Fließen kommen.

"Solche wie mich kennt man nur aus den Nachrichten"

Tobias P. ist seit zwölf Jahren in einer betreuten Wohnform im Landkreis zu Hause. Es tut ihm gut, nach Jahren konnte er sogar zulassen, dass seine Betreuerin die Wohnung betritt. Eine Sache des Vertrauens, wie so vieles, das für die meisten Menschen normal ist, aber nicht für Menschen wie ihn. "Jeder könnte jemand sein, der mir wehtut." Und die Wohnung, "die war ja Tatort", erzählt er. "Solche wie mich kennt man nur aus den Nachrichten." Solche wie er, das sind die Missbrauchten, das sind die, denen die Kindheit geraubt wurde. Und die irgendwann gelernt haben, damit zu leben.

Oder es nicht können. Anfang der 1990er unternimmt Tobias P. seinen ersten Suizidversuch. Es folgen Gespräche mit einem Therapeuten, nicht viel später dann ein zweiter Versuch. "Dabei wollte ich gar kein Ende meines Lebens", sagt er, "ich wollte nur ein Ende des Leidens". Es kommen andere Therapeuten, die nicht auf seine Problematik spezialisiert sind, andere Gespräche, die Nussbaumklinik, vorher schon Haar, all jene Häuser, in denen psychisch Kranke Hilfe bekommen sollen. Bis Tobias P. selbst die entscheidende Frage stellt: "Wer bin ich?" Bis heute ist er auf der Suche nach einer gültigen Antwort.

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Eine Psychologin habe ihn immer wieder mit einem Glas Wasser verglichen, ein Versuch, mit einem Bild die Vorstellung der Einheit, einer funktionierenden Person zu beschwören. "Aber so konnte ich mich nie sehen", erzählt er. "Ich bin ein Glas mit Eiswürfeln. Jeder Würfel steht für eine andere Person in mir." Für die verschiedenen Personen, die gleichzeitig in ihm sind und miteinander ringen. Ein kleiner Junge ist auch darunter.

Als ob sein Gehirn sich geweigert hätte, diesen Teil seines Erlebens anzuerkennen

Extrem traumatische Erlebnisse während der frühen Kindheit können eine Störung auslösen, wie Tobias P. sie hat. Erlebnisse, von denen er lange Zeit überhaupt nichts gewusst hatte. Es ist so, als ob sein Gehirn sich geweigert hätte, diesen Teil seines Erlebens anzuerkennen. "Als hätte ich das nicht wissen dürfen. Ich war darauf gedrillt, immer nur ja zu sagen, zu funktionieren. Alles sollte ganz normal aussehen."

Als seine Kindheit längst vorbei ist, merkt er, dass er ganz und gar nicht funktioniert, eine Ausbildung zum Industriekaufmann mündet in einen schweren Zusammenbruch, er kann kaum arbeiten. Inzwischen lebt er von einer kleinen Berufsunfähigkeitsrente und aufstockenden Leistungen.

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Immer wieder peinigen ihn Panikattacken, soziale Ängste, er verwahrlost zusehends. Viele Gespräche und ein guter Arzt bringen ihn auf die richtige Spur. Doch es ist keine zusammenhängende Geschichte, die er erzählen kann. "Es ist schon seltsam, wenn du mit 38 merkst, dass dir ein Drittel deines Lebens fehlt." Eine Amnesie blockiert immer noch den kompletten Blick auf seine Kindheit, kein Weihnachten, kein Geburtstag, da sind nur Flashbacks, Erinnerungsbruchstücke. Das Bild einer psychopathischen, gewalttätigen Mutter, 150 Kilogramm schwer, die nachts mit einem Messer an seinem Bett steht und ihn ermorden will, immer wieder Hunger, die Mutter zwischen leeren Flaschen in einem dunklen Raum, Gestank, solche Dinge schleichen sich in seinen Verstand.

Und dann diese andere Sache, die er vergessen hatte, weil sie kaum auszuhalten ist, die nicht nur einmal passiert sei, sondern "organisiert", wie Tobias P. sagt. Er spricht von verkauft werden, erniedrigt werden, von dem Gefühl, dass er nur etwas "für den Mülleimer" sei. Auch wenn die Erinnerungen nicht alle präsent sind, die Angst ist es doch. Und die Überzeugung, nur Schmutz zu sein.

"Die Schönheit der Welt zu erkennen, das musste ich erst lernen"

Vor einigen Jahren hat Tobias P. angefangen zu malen, weil Menschen, die es gut mit ihm meinten, festgestellt hatten, dass er gut darin ist. Drei Mal hat er es jetzt schon in die Auswahl zu einem Kunstförderpreis geschafft. Vieles ist schlimm, was er malt, immer wieder sind Bilder darunter, die er zerstören muss, weil er sie selbst nicht aushält, andere aber haben den Weg in die Öffentlichkeit gefunden, wie das von einem Mann und einem Knaben in Löffelchenstellung, oder einem Mann mit dunklem Umhang, der sich eben über dem Kind schließt, das sich ans Bein des Mannes klammert. Er malt jetzt auch Bilder, die einfach nur schön sind, Blumen, Vasen. "Das ist vielleicht künstlerisch nicht so wertvoll", sagt er, aber es tue so gut, auch einmal etwas Schönes zu schaffen. "Die Schönheit der Welt zu erkennen, das musste ich erst lernen- da habe ich einen ganz großen Anker gefunden."

Tobias P. hat hat nun eine spezielle Trauma-Therapie in München begonnen. Die Kosten für die Fahrt von gut 40 Euro im Monat kann er kaum aufbringen, vom Geld für seine Farben gar nicht zu reden. Eine Spende könnte ihm helfen, den Weg zurück ins Leben zu finden. "Das Ziel ist, dass ich mich erinnere." Tobias P. hat sich zu dem Gespräch bereit erklärt, weil er andere, die Ähnliches durchlebt haben wie er, ermutigen will, sich Hilfe zu suchen.

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