Missbrauch:"Die ganze Sache berührt mich sehr und tut mir weh"

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Hans Orterer, Musiker und pensionierte Oberstleutnant aus Ebersberg, war in seiner Kindheit mehr als zehn Jahre bei den "Regensburger Domspatzen". Sexuelle Gewalt hat er nicht erlebt. Schläge waren aber durchaus an der Tagesordnung

interview Von Anja Blum

Die Schlagzeilen, die derzeit über die Regensburger Domspatzen zu lesen sind, lassen die Ohren nicht klingen. Denn Anwalt Ulrich Weber, der vom Bistum mit der Aufklärung der Misshandlungen und Missbrauchsfälle rund um den weltberühmten Chor beauftragt wurde, hat einen schockierenden Zwischenbericht vorgelegt: Mindestens 231 Kinder sollen zwischen 1953 und 1992 misshandelt, weitere 50 sexuell missbraucht worden sein, von 42 beschuldigten Priestern und Lehrern ist die Rede. Der Ebersberger Musiker Hans Orterer, geboren 1948, hat das ganze Programm der Domspatzen durchlaufen - und nimmt die Institution dennoch in Schutz.

SZ: Herr Orterer, wie lange waren Sie in Regensburg?

Hans Orterer: 1956 kam ich als Achtjähriger in die Domspatzen-Vorschule nach Etterzhausen, zwei Jahre später wechselte ich auf das Musikgymnasium in Regensburg und war Mitglied des Konzertchors. Dort blieb ich - mit einer sängerischen Pause während des Stimmbruchs - bis zum Abitur 1967.

Laut Aufklärer Weber hat der Missbrauch in allen Einrichtungen der Domspatzen stattgefunden. Was haben Sie dort erlebt?

Was dieses Thema angeht, bin ich ein schlechter Zeuge, denn ich kann eigentlich nur Positives berichten. Oder zumindest nicht bestätigen, dass es dort ein "System des Terrors und Schreckens" gab, wie jetzt behauptet wird.

Sondern?

Na ja, wir waren lustige Buben mit den üblichen Sorgen. Natürlich gab es scharfe Lehrer, vor denen wir Respekt und manchmal richtig Bammel hatten. Und auch körperliche Bestrafung war üblich, etwa die berühmten Tatzen, also Schläge mit dem Lineal auf die flache Hand, oder Ohrfeigen. Die haben auch weh getan - aber das war damals eben ganz normal. Und wir waren ja auch keine Engerl, selbst wenn es bei Auftritten so ausgesehen haben mag. Wir waren richtige Lausbuben, die selbst einen Heiligen zur Weißglut reizen konnten . . . Also: Wer würde da nicht mal losbrüllen, wenn er den ganzen Tag in diesem Umfeld verbringen müsste?

Das heißt, Sie haben nichts erlebt, was aus Ihrer Sicht den Begriff Misshandlung verdienen würde?

Nein, weil ich das trennen kann: Ich beurteile die damalige Zeit nicht nach heutigen Maßstäben. In den Siebzigerjahren wurde die körperliche Züchtigung verboten - und das ist auch sehr gut so. Deswegen erscheinen Tatzen und Ohrfeigen heute als ungeheuerlich. Aber damals, zu meiner Zeit bei den Domspatzen, waren solche Maßnahmen eben noch üblich, und nicht nur dort: Das gab es ja auch an allen anderen Schulen und Internaten.

Darüber hinaus ist es bei Ihnen in Regensburg nicht gegangen?

Ich habe nie erlebt, dass gewisse Grenzen überschritten wurden, ich war nie exzessiver Gewalt, echten Prügeln oder sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Insofern bin ich ein schlechter Zeuge.

Und Sie haben auch bei anderen Schülern so etwas nicht mitbekommen?

Nein. Nur einmal habe ich von einem Erzieher gehört, der sich an einem Jungen vergriffen hatte, aber das war vor meiner Zeit. Als ich kam, war der schon weg.

Wie erklären Sie sich dann die vielen Fälle, die vielen Opfer, die sich gemeldet haben und immer noch melden?

Ich weiß es auch nicht. Es mag sicher Fälle gegeben haben, und ich will auch niemanden der Lüge bezichtigen. Aber vielleicht liegt das Problem darin, dass die damaligen Verhältnisse eben mit einem heutigen Blick beurteilt werden. Außerdem: So mancher Klassenkamerad, der sich nun als Opfer darstellt, ist mir eher als rechter Auftreiber in Erinnerung. Und in solchen Fällen macht sich dann schon eine gewisse Unsicherheit breit . . . Außerdem verwundert mich diese Sprachlosigkeit: Während meiner Zeit hat es einen großen Wechsel beim Personal gegeben. Da hätten die Betroffenen sich doch ganz Unbeteiligten anvertrauen können. Grundsätzlich kann ich aber weder etwas beweisen, noch widerlegen.

Der Musiker, Dirigent und Komponist Hans Orterer, geboren 1948 in der Jachenau, war 34 Jahre lang Musikoffizier bei der Bundeswehr. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Welches Fazit würden Sie denn aus Ihrer Kindheit und Jugend bei den Domspatzen ziehen?

Ich hab' auf jeden Fall keinen Knacks davongetragen! ( lacht) Ganz im Gegenteil: Wir hatten dort vor allem in allen musikalischen Bereichen hervorragende Lehrer. Ich wäre ohne diese Ausbildung sicher nicht der geworden, der ich heute bin, schließlich stamme ich aus ziemlich einfachen Verhältnissen aus der Jachenau. Insofern bin ich sehr dankbar. Am meisten gelitten habe ich persönlich eigentlich unter einem entsetzlichen Heimweh, das mich vier Jahre lang plagte - aber dafür konnten die Lehrer ja nichts.

Waren Sie je bei einem Ehemaligentreffen?

Ja, ein paar Mal, aber das war, bevor die erste Welle an Vorwürfen über die Domspatzen hereingebrochen ist. Es waren mehr als hundert Menschen da, es war lustig und spannend - wie solche Veranstaltungen eben sind. Einmal hat unser früherer Chef, Georg Ratzinger, alle Ehemaligen in einem riesigen Chor dirigiert, das war bombastisch. Vor der Probe hat er gesagt: "Kommt nur, ich bin nicht mehr so schlimm." Damals hatten wir ihn "Meister Prober" genannt, weil bei ihm immer alles bis ins letzte Detail stimmen musste. Das war natürlich sehr anstrengend, aber die Qualität war dann auch dementsprechend erstklassig . . .

Welche Gefühle lösen die nun noch größer gewordenen Vorwürfe gegenüber den Domspatzen in Ihnen aus?

Die ganze Sache berührt mich sehr und tut mir weh, schließlich bin ich immer noch ein alter Domspatz. Einerseits ist freilich jeder Fall einer zu viel. Andererseits tut es mir sehr leid um die Institution. Die Verantwortlichen von damals sind größtenteils tot. Das bedeutet, dass lauter Unschuldige das Imageproblem jetzt ausbaden müssen. Das haben sie aber nicht verdient.

© SZ vom 16.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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