Grafinger Ehrenbürger:"Der Mensch braucht Zuversicht"

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Adalbert Mischlewski ist 100 Jahre alt und im Kopf hellwach. Eine gute Kombination, um in Corona-Krisenzeiten über Solidarität und Hoffnung zu sprechen

Interview von Thorsten Rienth

Sein berufliches Leben erfüllt der im November 1919 geborenen Adalbert Mischlewski zunächst als Priester im Allgäu, dann als Lehrer am Grafinger Gymnasium. In den 1990er Jahren initiiert er die deutsch-französische Städtepartnerschaft zwischen Grafing und St. Marcellin. Dafür - und für seinen unermüdlichen Einsatz für die Ökumene - erhält er im Jahr 2005 das Bundesverdienstkreuz. Im Jahr 2013 ernennt ihn Grafing zum Ehrenbürger.

SZ: Herr Mischlewski, haben Sie zurzeit Angst?

Adalbert Mischlewski: Ich bin gesegnet mit einem Alter von 100 Jahren, habe als Soldat die vollen sechs Jahre des Zweiten Weltkriegs überlebt. Für das lange Leben, das mir der liebe Gott geschenkt hat, bin ich unendlich dankbar. Diese Dankbarkeit relativiert meine Angst vor dem Virus. Sorge bereitet mir vielmehr die Angst der anderen, weil sie einen beachtlichen Teil ihres Lebens vor sich haben, weil sie oft zu den Schwächeren der Gesellschaft gehören, weil der Puffer auf dem Konto immer kleiner wird.

Wie meinen Sie das?

Die aktuelle Situation bringt den Fortschrittsglauben ins Wanken, der gerade im Deutschland der vergangenen 75 Jahre eine Selbstverständlichkeit geworden ist: Wir hatten praktisch für alles immer eine Lösung. Jetzt ist etwas in unser Leben eingebrochen, für das wir - in Form eines Corona-Gegenmittels - noch keine Lösung haben. Das erschüttert den Rahmen, in dem ein Großteil unserer Gesellschaft aufgewachsen und älter geworden ist.

Wird das Virus diesen Rahmen zum Einstürzen bringen?

Natürlich nicht. Dafür ist die Art und Weise wie wir leben und zusammenleben viel zu gefestigt. Glücklicherweise. Deshalb halte ich auch wenig von diesen pathetischen Schlagzeilen, dass die Welt nach dem Virus eine ganz andere sein würde. Das impliziert, dass wir die Welt danach nicht mehr wiedererkennen, uns in ihr nicht mehr wohlfühlen würden. Diese Schlussfolgerung halte ich für unzu- treffend.

Wie sieht Ihre Schlussfolgerung aus?

Ich formuliere es jetzt einmal etwas überzeichnend nüchtern: Wir trauern um die Toten. Wir erleben Einschnitte großen Ausmaßes. Aber unzählige kluge Köpfe auf der ganzen Welt arbeiten an einer Lösung. Die Chancen stehen sehr gut, dass sie in absehbarer Zeit ein Medikament gegen das Virus entwickeln werden, und, wenngleich wohl etwas zeitversetzt, einen Impfstoff. Ich wünsche uns, dass wir das nicht aus den Augen verlieren.

Was braucht der Mensch in solchen Zeiten?

Der Mensch braucht Zuversicht. Natürlich, ich bin ein gläubiger Mensch und kann es mit Papst Johannes XXIII. halten: Wer glaubt, zittert nicht. Hoffnung und Zuversicht schöpfe ich auch aus meinem direkten Umfeld. Es haben sich verschiedene Leute aus der Nachbarschaft bei uns gemeldet mit der Frage, ob wir irgendwelche Unterstützung bräuchten? Das hat uns sehr gerührt! Wenn wir alle mit Nächstenliebe und etwas Fantasie auf unser Umfeld blicken, können wir bei vielen von uns auch neue Zuversicht schaffen.

I nzwischen definiert sich Nächstenliebe und Solidarität ausgerechnet dadurch, seinem Nächsten fern zu bleiben.

Ja, das ist befremdlich - und wieder so ein Rahmen, den die Corona-Krise auf den Kopf stellt. Aber auch dabei gilt: Die Welt wird nicht für immer Kopf stehen. Es liegt an uns selbst, die Dinge wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Zunächst mit der Disziplin, Distanz zu wahren und unsere Definition der Nächstenliebe von der räumlichen Nähe und der physischen Präsenz vorübergehend zu entkoppeln.

Was halten Sie von der Diskussion, die gerade über eine bessere Bezahlung der sogenannten systemrelevanten Berufe startet?

Dass die Pflegerinnen und Pfleger, die Arzthelferinnen und Arzthelfer, die Kassiererinnen und Kassierer, Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer nicht angemessen bezahlt werden, ist doch nichts Neues. Vielleicht gehört es zu den Positiva dieser Krise, dass nun endlich eine Debatte darüber beginnt. Diese Diskussion bringt uns im Übrigen auch schnell zu der Frage, wie sich die Solidarität zum Beispiel von der Nachbarschaft auf einer höheren Ebene fortsetzen kann.

Was ist Ihre Antwort?

Wer bin ich, mir die Lösung schon zu diesem Zeitpunkt anzumaßen? Aber wir werden unsere Welt nach dieser Krise nachjustieren müssen, gesellschaftlich wie ökonomisch. Die Lohngerechtigkeitsdebatte ist nur ein Teil davon. Wir müssten in dieser einmaligen Zeit auch über eine einmalige Abgabe der Hochvermögenden sprechen. Von jemandem, der Dutzende Millionen oder gar Milliarden besitzt, können wir verlangen - natürlich unter der Prämisse der gewahrten Verhältnismäßigkeit -, dass er sich auch an den Kosten dieser Krise beteiligt. Ihm sei der Reichtum gegönnt. Aber zustande gekommen ist dieser in der Regel durch die Arbeit vieler Hände.

Wenn Sie wieder aus dem Haus können, was werden Sie als Erstes machen?

Meine Augen sind gerade in den vergangenen Monaten spürbar schlechter geworden. Ich sehe nicht mehr viel. Mein Bewegungsradius liegt deshalb vor allem zwischen unserem Wohnzimmer und meinem Schreibtisch. Ich habe das Glück eines kleinen Gartens. Das kompensiert einiges. Ich vermisse es, meine Kontakte zu pflegen, ich vermisse das gesellschaftliche Zusammenkommen: unerwartete Gespräche unterwegs, Besuche und Feste bei Freunden, das ökumenische Bibelgespräch und die Ökumeneabende, Vorträge im Museum unserer Stadt, bei der Katholischen Akademie, dem Historischen Kolleg oder der Siemens-Stiftung. Je länger ich zuhause bleiben muss, desto mehr werde ich mich danach auf all das wieder freuen.

© SZ vom 11.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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