Generell macht Michael Wesely kein Geheimnis um jenes Verfahren, das ihn berühmt gemacht hat: Fotos mit einer unfassbar langen Belichtungszeit aufzunehmen. Nicht von Minuten ist hier die Rede, nicht von Stunden, sondern von Jahren. Zeiträume also, in denen eine immense Dosis an Licht eigentlich jede Aufnahme unmöglich macht. Wie sie trotzdem gelingt? Wesely erzählt freimütig, dass man dafür spezielle Filme, Graufilter und Emulsionen brauche. Angst vor Nachahmern muss er nämlich kaum haben: „Das Ganze im Detail auszutesten, dauert Jahre“, sagt er und grinst.
Wesely aber ist schon immer hartnäckig gewesen. „Dort, wo die anderen abwinken, fange ich erst richtig an“, sagt er. Bereits in jungen Jahren experimentierte der Sohn eines Hobbyfotografen aus Ebersberg mit Langzeitbelichtung, scheute dafür weder Kosten noch Aufwand. Damals, in einer Sportler-WG in der Schloßstraße, entstand ein erstes Selbstporträt mit einer Belichtungszeit von acht Stunden. Das war gewissermaßen die Initialzündung. „Da dachte ich: Wenn acht Stunden möglich sind – was ist dann da noch alles drin?“
Und nun kehrt der renommierte Künstler, der inzwischen in Berlin lebt, zurück zu diesen Wurzeln: Wesely stellt in der Galerie des Ebersberger Kunstvereins aus, hat dafür eine schöne Mischung aus all seinen Schaffensphasen zusammengestellt. „Er ist gerade 60 Jahre alt geworden und nimmt das zum Anlass zurückzublicken, auch etwas wehmütig, auf seine alte Heimat“, erklärt Maja Ott, die mit ihrem Mann Hubert Maier die Projektleitung für die Schau des langjährigen Freundes übernommen hat.
Ja, Weselys Wurzeln sind hier fest verankert. Als junger Sportler hat er mit derselben Hartnäckigkeit wie in der Fotografie einst den immensen Erfolg des Grafinger Volleyballs mitbegründet, als Spieler wie als Trainer. „Ich wollte einfach nicht glauben, dass nur das Geld oben spielen kann. Das sollte doch auch mit guten, gewachsenen Strukturen gelingen!“, erzählt er. Deswegen zog Wesely auch nach dem Abitur nicht gleich weg, sondern gründete eben jene Volleyballer-WG in einem kleinen „Heisl“ nahe des Klosterbauhofs, dort, wo heute das Einkaufszentrum liegt. „Damals war das ganze Gelände noch völlig unrenoviert, bissl ranzlig, mit Kühen und so.“
Doch auch in der Kunst hat der junge Wesely hier Gleichgesinnte gefunden, mit Bildhauer Maier zum Beispiel verbrachte er Ende der 80er „einen ganz wichtigen Sommer“, eine Akademie in Salzburg. Da habe man zusammen ein ganz offizielles „Büro“ gegründet, Maschinen gebaut, diverse Probleme gelöst, Vorträge und ein großes Fest organisiert. Auch eine Fotoserie ist während dieser Wochen entstanden: Wesely und Maier haben alle Professoren, darunter „einige sehr berühmte Leute“, porträtiert. Ein paar dieser Aufnahmen sind nun in der Galerie des Kunstvereins zu sehen. Wie alle Porträts von Wesely fangen sie die Person nicht in einem einzigen Moment ein, sondern geben dem Gegenüber mehrere Minuten Zeit, „sich in den Film einzuschreiben“. Mehr Zeremonie denn Schnappschuss.
Ausgebildet wurde Wesely zunächst an der bekannten Staatslehranstalt für Photographie in München – „das heißt, ich war technisch bis an die Zähne bewaffnet, als ich an die Kunstakademie kam“, erzählt der 60-Jährige. Und schon damals habe er ständig „das Medium befragt“: Was kann Fotografie leisten? So lautet die Frage, die Wesely umtreibt. Antreibt. An den Rand, an die Grenzen. Dorthin, wo noch keiner war.
In seiner Konzeptkunst rund um die extreme Langzeitbelichtung vereint Wesely den ewigen Wunsch nach dem Verweilen mit der stetigen, unaufhaltsamen Veränderung des Lebens. Seine Bilder sind stets an Vorgänge gekoppelt, an ein Fußballspiel, ein Abendessen, einen Tag am Strand. Wobei freilich immer eine Art Unschärfe der Gleichzeitigkeit entsteht: Die verschiedenen Stadien lagern sich an, lösen sich wieder auf, überschreiben einander. Die Menschen werden am Ende zu flüchtigen Schatten, das Essen ist schon verspeist, der Ball längst nicht mehr im Tor. Von besonders großer Poesie sind Weselys Blumenbilder: beeindruckende Studien der Entwicklung von Sträußen in einer Vase, vom Aufgehen der Knospen bis zum Verwelken. Ein fast malerisches Vanitasmotiv.
Sein Durchbruch gelang dem Fotografen 1997 mit einem Bild vom Umbau des Potsdamer Platzes. Es dokumentiert die Veränderungen in einem Zeitraum von zwei Jahren. Noch länger war der Verschluss seiner Kamera geöffnet, um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses zu verfolgen, auch die Renovierung der Neuen Nationalgalerie des Mies van der Rohe, ebenfalls in Berlin, begleiteten Weselys Apparate. Er selbst bezeichnet seine Aufnahmen als optische „Archive, in denen etwas durcheinandergeraten ist“. Was war vorher, was nachher? Das Auge verwandelt sich hier zum Spaten, der sich von Schicht zu Schicht vortastet, um die Spuren von Ereignissen und Handlungen freizulegen.
Wesely scheint mehr und mehr fasziniert von der Geschichte und der sich weiterentwickelnden Menschheit. Alle Bilder seien irgendwie schon einmal dagewesen, sagt er – und zeigt wie zum Beweis stark vergrößerte Ausschnitte aus 120 Jahre alten Fotografien. Um die Dokumentation von Architektur sei es damals gegangen, erklärt der Künstler, für die Details vor den Häusern habe sich niemand interessiert. Er aber habe nun herangezoomt an das alltägliche Leben, das sich auf diesen Bildern manifestiert. Und siehe da: In ihrer Unschärfe zeigen diese Ausschnitte große optische Verwandtschaft zu Weselys Werken.
Aus dem Willen, das Weltgeschehen zu kondensieren, kam 2015 ein weiteres Arbeitsfeld hinzu, von dem Weselys aktuelle Schau im Fotomuseum Berlin zeugt: Unter dem Titel „Doubleday“ kombiniert der Künstler historische Berlin-Ansichten mit aktuellen Aufnahmen. Jedoch nicht nebeneinander, wie es oft geschieht, sondern übereinander, also in einem Bild. „Dazu suche ich mir den exakt gleichen Standort, fotografiere die Szenerie aus dem gleichen Blickwinkel erneut, füge beides deckungsgleich zusammen und gebe so Einblick in das ewige Palimpsest der Hauptstadt“, erklärt Wesely.
Zeitsprünge also sind Michael Weselys Metier. Und nun unternimmt er selbst einen ganz persönlichen: eine Rückkehr nach Ebersberg, dorthin, wo seine Reise an die Grenzen der Fotografie einst begonnen hat. „Ja, schon krass“, sagt er. Und grinst.
Michael Wesely: „Visual Archeologies (1978-2024)“ in der Alten Brennerei im Ebersberger Klosterbauhof, Eröffnung mit einer Laudatio von Hubert Maier am Freitag, 5. Juli, um 19 Uhr. Finissage und Künstlergespräch am Sonntag, 28. Juli, um 11 Uhr. Geöffnet ist die Galerie donnerstags und freitags von 18 bis 20 Uhr, samstags von 17 bis 20 Uhr und sonntags 11 bis 13 Uhr.