Messie-Syndrom:Gefangen zwischen Müllbergen

Symbolproduktion Messie-Syndrom

Altes Papier, Essensreste, Kleidung: Was die meisten Menschen in den Müll werfen würden, sammeln andere über Jahre hinweg.

(Foto: Symbolbild/TRAX)

Sigrid Mayer aus Ebersberg bei München ist ein Messie. Irgendwann hatte sie nur noch einen freien Stuhl, der Rest war zugepackt. Wie sie den Weg zurück ins Leben schaffte.

Von Jessica Morof

Wenn Sigrid Mayer, die eigentlich anders heißt, nach Hause kommt, freut sie sich sehr. Sie dreht den Schlüssel im Schloss, schiebt die Türe auf, tritt in den Flur und fühlt sich einfach wohl.

Früher war das anders, denn früher hatte Mayer immer Angst, wenn sie die Schwelle in ihr eigenes Heim übertreten musste. Jeden Tag graute ihr davor. Denn die 50 Quadratmeter große Wohnung war schon voll. Voller Papier, voller alter Wäsche, voller Essensreste. Kurz: voller Müll.

Vor einigen Jahren hat Sigrid Mayer zu den Menschen gehört, die das sogenannte Desorganisationssyndrom haben - auch "Messies" genannt. Sie sammeln Dinge, die die meisten anderen Menschen wegschmeißen würden. Sie stapeln sie in Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und machen so ein Leben zwischen dem Chaos eigentlich unmöglich. Die Betroffenen sitzen zwischen Bergen von Müll, können nicht mehr kochen und vernachlässigen neben der Wohnung oft auch sich selbst.

Das Desorganisationssyndrom selbst ist kein Krankheitsbild

Dabei ist das Desorganisationssyndrom selbst kein Krankheitsbild. Es handelt sich vielmehr um ein Symptom verschiedener körperlicher und vor allem seelischer Erkrankungen. Auch die Sozialpsychiatrischen Dienste Ebersberg wissen das und haben 2014 ein Desorganisationsnetzwerk aufgebaut.

Daran beteiligen sich die Sozialhilfeverwaltung, das Jugendamt, das Jobcenter, die gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft, das Reinigungsunternehmen Münz und die diakonia GmbH. Den Kontakt können die Betroffenen selbst herstellen - auch anonym. In manchen Fällen melden sich Familienangehörige mit der Bitte um Hilfe.

Dann versuchen die Mitarbeiter in Gesprächen, das Vertrauen zu den Klienten aufzubauen und herauszufinden, welche Probleme vorliegen. Je nach Fall arbeiten die Einrichtungen und Unternehmen zusammen. Sie nehmen sich der betroffenen Menschen an - wenn diese es denn zulassen.

Denn Entrümpelung und Reinigung, das betreute Wohnen, die Gesprächsrunden und die Arbeitsangebote sind immer auf freiwilliger Basis. Zwingen können Georg Knufmann, der Leiter der Sozialpsychiatrischen Dienste Ebersberg, und die Mitarbeiter niemanden.

Als sich Ungeziefer breit machte, kam das Gesundheitsamt

Sigrid Mayer hatte nur noch einen einzigen Stuhl, auf dem sie im Wohnzimmer sitzen konnte. Alles andere war zugestellt, vollgepackt und überladen mit Kram. Welche Dinge genau die Frau über Jahre hinweg gesammelt hat, kann sie heute gar nicht mehr sagen. "Post, Zeitungen, Flaschen - Ich habe einfach den Überblick verloren", erklärt die 55-Jährige.

Wenn sie Hunger hatte, musste sich Mayer etwas im Imbiss oder aus dem Supermarkt holen, da auch in der Küche kein Platz war, etwas zu kochen oder vorzubereiten. "Geradeaus konnte ich gar nicht mehr in die Wohnung gehen", sagt sie. Denn auch der Flur war vollgestellt bis oben hin. Sie musste sich seitwärts durch den Gang schieben.

Erst als sich das Gesundheitsamt 2010 einschaltete, da sich Ungeziefer breit machte und drohte, in die Nachbarwohnung umzusiedeln, waren der Höhepunkt des Chaos' und der Tiefpunkt der Stimmung erreicht. Sigrid Mayer brauchte Hilfe. Und die bekam sie von den Sozialpsychiatrischen Diensten. Den Kontakt hat der gesetzliche Betreuer hergestellt, den das Gericht Mayer zugesprochen hat.

Dann musste zum einen die Wohnung gereinigt, desinfiziert und renoviert werden. Zum anderen brauchte Mayer psychologische Unterstützung. "Es war schon sehr schwer, Abschied zu nehmen", sagt sie. Abschied von alten Kartons, kaputten Socken oder Pizzaschachteln?

Ja. Auf irgendeine Weise scheinen diese Dinge der Frau einen Halt gegeben zu haben, den sie anderswo nicht bekommen hat. Die Gründe dafür herauszufinden und eine Verbesserung des seelischen Zustands herbeizuführen, darum kümmerten sich die Sozialpsychiatrische Dienste.

Besuch von der Wohnassistenz

Nach einem kurzen Übergangsaufenthalt in einer Pension während der Renovierungsarbeiten nahm Mayer am intensiv betreuten Wohnen und danach am einfach betreuten Wohnen teil. Sie lebte zuhause, bekam aber mehrmals in der Woche Besuch von der Wohnassistenz.

Sie ist keine klassische Reinigungshilfe, denn sie unterstützt nur beim Putzen; vor allem aber motiviert und erinnert sie ihre Klienten, selbst aktiv zu werden. Sie gibt Aufgaben bis zum nächsten Treffen und lobt, wenn diese erledigt wurden. Zum ersten Mal lernte Mayer, die Wohnung sauber zu halten.

"Mit der Ordnung habe ich es noch nie gehabt", gibt die 55-Jährige zu. Darum habe sich die Mutter gekümmert und hinter der Tochter hergeräumt. Das war auch kein Problem, denn aus dem elterlichen Haushalt ist Mayer nie ausgezogen. Die Eltern hatten es nicht erlaubt.

"Mein Vater war bitterbös, als er gehört hat, dass ich ausziehen möchte." So hat sie ihr eigenes Leben hinten angestellt, um bei der Familie zu bleiben. Hobbys und Freundschaften pflegte die Frau nie; ihre Freizeit gestaltete sie mit Fernsehen.

Scham, Depression und Minderwertigkeitsgefühle

Erst nach dem Tod der Mutter zog Sigrid Mayer in ihre eigene Wohnung um, pflegte aber den Vater nach der Arbeit. Viele Jahre war sie bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt, hatte lange und unregelmäßige Arbeitszeiten. "Wie sollte ich da meinen Haushalt machen?", fragt sie.

Der Druck auf Mayer stieg stetig - bald litt sie an einer Depression. Ihr fehlte einfach die Kraft. Zuhause legte sie Geschirr, Verpackungen, Zeitungen, Kleidung und alles andere einfach nur noch irgendwo ab.

"Viele Klienten sind systematisch überfordert", sagt Knufmann. Sie befänden sich in einer Abwärtsspirale aus Scham, Depression und Minderwertigkeitsgefühlen, die es ihnen noch schwerer mache, sich aufzuraffen und das Problem anzugehen.

Viele könnten gar nicht mehr zur Arbeit gehen. Auf diese Weise isolierten sie sich selbst und fielen dann in ein noch tieferes Loch. Aus diesem Teufelskreis auszubrechen, sei beinahe unmöglich. "Ohne Unterstützung geht es gar nicht."

Überfordert mit der eigenen Wohnung

So fühlte es auch Sigrid Mayer. Sie ging zwar jeden Tag zur Arbeit; das Bad konnte sie noch benutzen, um sich zurecht- und die Wäsche sauber zu machen. Ansonsten kapselte sie sich immer mehr von der Außenwelt ab und war völlig überfordert mit der Wohnung: "Wenn ich ein bisschen was weggeräumt habe, hat man das ja gar nicht gesehen." Irgendwann wusste sie einfach nicht mehr, wo sie anfangen soll - und hat es einfach gelassen.

Doch jetzt ist alles anders. "Jetzt ist es wieder schön bei mir zuhause", sagt Sigrid Mayer. Nach zwei Jahren betreutem Wohnen schafft sie es inzwischen, ihre häuslichen Aufgaben zu bewältigen. Als Unterstützung hat sie eine Reinigungshilfe engagiert. Die Anstellung bei der Zeitarbeitsfirma musste sie aufgrund von Rückenbeschwerden aufgeben; dafür ist sie nun sozial sehr engagiert.

"Wir haben schnell gemerkt, dass sie ein sehr kontaktfreudiger, sozialer und neugieriger Mensch ist", erinnert sich Knufmann. Nach ein wenig Überredungsarbeit kam Mayer regelmäßig zur "Visitee", einem Gesprächskreis, bei dem sie sich jetzt noch einbringt und Kontakt zu anderen Teilnehmern aufnimmt. Außerdem ist sie Mitglied in Vereinen und arbeitet in der Psychiatrischen Tagesstätte Gartenhof. Sie genießt die Zeit - ob in oder außerhalb ihrer Wohnung. "Ich habe ja gar nicht gewusst, was ich alles verpasse."

Das „Messie“-Syndrom

Das sogenannte Messie-Syndrom erfährt seit den 90er Jahren einen stetig wachsenden Bekanntheitsgrad. In Fachkreisen geht man von etwa zwei Millionen Menschen aus, die deutschlandweit an diesem Syndrom leiden. Die Sozialpsychiatrischen Dienste Ebersberg beraten jährlich von insgesamt tausend Ratsuchenden etwa 40 Klienten mit erheblichen Wohnungs- bis hin zu Vermüllungsproblemen.

Um ihnen zu helfen, muss die Wohnung fachmännisch gereinigt und renoviert werden. Gleichzeitig sollten aber auch die Auslöser - meist handelt es sich um körperliche oder seelische Krankheiten - behandelt werden. Das Desorganisationsnetzwerk rund um die Sozialpsychiatrischen Dienste Ebersberg stimmt dafür nötige Maßnahmen mit den Betroffenen ab und unterstützt sie auch im Alltag.

Die Kosten tragen in der Regel die Klienten selbst. Ist dies nicht möglich, versuchen die Sozialpsychiatrischen Dienste bei Bedürftigkeit Kostenträger zu finden oder Spenden oder Stiftungsgelder zu beantragen. Betroffene können sich - gerne auch anonym - beim Sozialpsychiatrischen Beratungsdienst melden, wenn sie neben einem Desorganisationsproblem auch eine psychische Erkrankung haben. moje

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