Kultur in Ebersberg:Raus aus dem Stau und voll in Fahrt

Kultur in Ebersberg: Martin Schmitt ist eine Rampensau aus dem Kabarettisten-Lehrbuch. Er betritt die Bühne, zieht los wie eine mächtige Dampflok, es kracht, es zischt, es ruckelt kurz, die Nummer rollt.

Martin Schmitt ist eine Rampensau aus dem Kabarettisten-Lehrbuch. Er betritt die Bühne, zieht los wie eine mächtige Dampflok, es kracht, es zischt, es ruckelt kurz, die Nummer rollt.

(Foto: Christian Endt)

Endlich können die Menschen im Alten Kino wieder Kultur live erleben. Wie sehr das gefehlt hat, zeigt sich beim grandiosen Auftritt von Martin Schmitt mit seinem Programm "Blues mit lustig".

Von Ulrich Pfaffenberger, Ebersberg

Lang hat es gedauert, vorsichtshalber sogar ein bisschen länger, bis das "Alte Kino" in Ebersberg sein Live-Angebot wieder aufgenommen hat. Aus dem Stau der abgesagten und verschobenen Aufführungen der vergangenen zwei Jahre wurde jetzt der Musikkabarettist Martin Schmitt als erster auf die Bühne gebeten. Wobei der Titel seines Programms statt als freudvoller Auftakt auch als melancholischer Abgesang verstanden werden könnte. Sein "Blues mit lustig" allerdings hielt genau das Gegenteil dessen, was die antizipatorische Angst in Konjunktion mit dem homophonen Phraseologismus zu inkludieren schien: Am Freitagabend in Ebersberg fing der Spaß wieder an - Übersetzung des Vorigen: "anders als befürchtet".

Es sind genau solch formelhafte Ausritte ins gestelzte Deutsch oder einen abstrakten Fachjargon, mit denen Schmitt den Geist und die Humorbereitschaft seines Publikums austestet. Ganz zu Beginn seines Auftritts rattert er einen ähnlichen Satz wie oben herunter, darin sich ein "reflexhafter und introspektiver Umgang des klavierspielenden Protagonisten mit ... belastenden Alltagssituationen" austobt, den er so für die SZ formuliert haben will, genauer noch: fürs Feuilleton. Soso. In der Pause um eine Wiederholung fürs korrekte Zitat gebeten, diktiert er Silbe für Silbe in den Block.

Der Funken springt in den Zuschauerraum viel flotter über als durch ein Glasfaserkabel

Wobei der angemessene Respekt nun nicht dem gedrechselten Satzbau gilt, sondern einem Wortkünstler, der sich seinen Auftritt so verinnerlicht hat, dass er ihn von jetzt auf gleich erneut abrufen, aber auch variieren kann. Auf dieser Ebene scheidet sich die Spreu vom Weizen: Solche Kunst beweist sich nur live. Genauso wie auch die Funken aus Gestik, Mimik, Körpersprache von einer Bühne in den Zuschauerraum trotz großen Abstands viel flotter und flammender überspringen, als das durch ein Glasfaserkabel oder Satellitensignal je möglich sein wird.

Dass deshalb wegen Brandgefahr ein nuschelnder Feuerwehrler die Veranstaltung untersagen will, ist einer der zahlreichen roten Fäden, die Schmitt immer wieder aus heiterem Himmel in sein Geflecht der Geschichten, Szenen und Anekdoten einreiht - und die unvermittelt Wirkung entfacht. Genauso wie die vertraut-gefürchtete Einladung: "Jetzt singen alle mal mit." Doch es sind nicht die Gags, die verblüffen, sondern die unverfrorene Leichtigkeit und extreme Präzision, mit denen er diese Lunten zur allseitigen Überraschung an unerwarteter Stelle wieder in Brand setzt.

Worin wahre Kleinkunst noch besteht? Der Re-Animation von Witzen. Manche Scherze und Anekdoten sind im Lauf der Zeit massiv eingerostet. Wem es aber gelingt, wie Martin Schmitt schon in den ersten Aufwärm-Minuten, diese bedrohliche Leere mit Persönlichkeit und Präsenz prall zu füllen, der löst die im Pandemie-Stillstand eingerostete Spaß-Bremse wie ein Tropfen "Caramba". Der Mann ist eine Rampensau aus dem Kabarettisten-Lehrbuch. Er betritt die Bühne, zieht los wie eine mächtige Dampflok, es kracht, es zischt, es ruckelt kurz, die Nummer rollt. Dazu aber braucht es, siehe oben, die mehrdimensionale Wirkung von Bühnenraum, Bewegung, Gestalt und all dem, was in einem Theater an Spielfläche vorhanden ist, einschließlich der Gefühle am Nebentisch.

Schon solche Momente sind es wert, sich aus dem virtuellen Entertainment-Raum zurück ins Leben begeben zu haben - für die Menschen im Saal, noch viel mehr aber für den Künstler. Der, zum allseitigen Vergnügen, nicht nur mit flinker Zunge, sondern auch noch mit flinken Fingern unterwegs ist und sich als Großmeister des Boogie-Woogie beweist. So gut macht er das, dass dem Publikum eigentlich zwei Auftritte zum Preis von einem gegönnt sind, in Personalunion von Wort- und Klavierspieler Schmitt.

Sein Repertoire besteht gleichermaßen aus eigenen Titeln wie aus Klassikern der Blues-Geschichte. Wie er den 95 Jahre alten "Honky Tonk Train Blues" per Basshand ins Hier und Heute rollen lässt, ist eine pianistische Liebeserklärung an Meade Lux Lewis. Als wahre Tempoorgie erweisen sich sein "Handful of Keys" von Fats Waller und sein "Tico tico", bei denen die Hände über die Tastatur zu fliegen scheinen, als hätten sie ihren eigenen Willen. In seinen eigenen Stücken trillert er einmal in der obersten Oktav mit einer Geschwindigkeit, dass sich die Schallwellen in einen flirrenden Wind verwandeln.

Kultur in Ebersberg: Der Künstler beweist sich auch als Großmeister des Boogie-Woogie.

Der Künstler beweist sich auch als Großmeister des Boogie-Woogie.

(Foto: Christian Endt)

Ein andermal treibt er den Hörsinn des Publikums zur Verzweiflung, als die Linke ihr hohes Tempo beibehält, während die Rechte mehr und mehr ins Ritardando verfällt, fast bis zur halben Note - ein Effekt, vergleichbar mit Filmbildern, in denen sich bei voller Fahrt die Felgen der Räder auf einmal rückwärts zu drehen scheinen. Ein Kamerabild kann täuschen, doch beim Liveauftritt ist es das reale Kunsthandwerk, das zunächst in Ehrfurcht verstummen und dann in jubelnden Applaus ausbrechen lässt.

Diese zweieinhalb wortkunstreichen Stunden im Alten Kino wären für sich ein meisterhaftes Plädoyer für "live". Für die leidenschaftliche Zuneigung des Publikums bedankt sich Martin Schmitt nicht nur mit heiß herbeigesehnten Klassikern aus seinem Repertoire wie "Sex Bömb" oder "Der Marder war da". Sondern er liefert auch Nachdenkliches. "Ich hadere mit dem bei uns etablierten Kulturverständnis", beendet er seinen Auftritt mit Hinweis auf die Leichtigkeit, mit der in den vergangenen zwei Jahren als verzichtbar erklärt wurde, was unverzichtbar war. "Dass ihr da seid, tut nicht nur mir, sondern auch den anderen gut, die neben euch sitzen", sagt er und appelliert an die wild Applaudierenden: "Seid's Messias, tragt's das weiter, was ihr heute hier gespürt habt."

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