„Sonntagsbegegnung“ in Markt SchwabenStatistisch gesund, praktisch krank

Lesezeit: 3 Min.

Im Markt Schwabener Unterbräu wird über die „Zukunft der Gesundheit“ diskutiert. Zu Gast sind Judith Gerlach, die bayerische Gesundheitsministerin (CSU) und Doktor Christian Pfeiffer, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern.
Im Markt Schwabener Unterbräu wird über die „Zukunft der Gesundheit“ diskutiert. Zu Gast sind Judith Gerlach, die bayerische Gesundheitsministerin (CSU) und Doktor Christian Pfeiffer, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Wie steht es um die Zukunft der Gesundheit? Ministerin Judith Gerlach und Christian Pfeiffer von der Kassenärztlichen Vereinigung diagnostizieren vor allem Störungen im System.

Von Ulrich Pfaffenberger, Markt Schwaben

Dass sich ein öffentliches Gespräch zur „Zukunft der Gesundheit“ vor allem um einen einzelnen Patienten dreht, mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich sein. Hört dieser Patient jedoch auf den Namen „Gesundheitssystem“, wird die Sache plausibel. So geschehen bei den jüngsten Markt Schwabener Sonntagsbegegnungen, bei denen sich Judith Gerlach, Bayerische Staatsministerin für Gesundheit, und Doktor Christian Pfeiffer, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, am fiktiven Krankenbett gegenüberstanden. Doch nicht nur die beiden Gäste von Veranstalter Bernhard Winter beschäftigten sich mit einer einschlägigen Anamnese, auch Ärztinnen und Ärzte aus dem Publikum im gut besuchten Unterbräu-Saal trugen mit ihren Beobachtungen und Analysen zur Diagnose bei: Bürokratie und Praxisferne wirken auf ein kränkelndes System wie ein vorgelagerter Beipackzettel.

Die Wende vom persönlichen Gesundheitsbewusstsein zum politischen Doktorieren war schnell vollzogen. Bekannte sich Gerlach zunächst zu ihrer Vorbildfunktion als Gesundheitsministerin, die bei Bierfesten nicht mehr zum Frischgezapften greift, und appellierte Pfeiffer an Eltern, die eigene Bequemlichkeit hintanzustellen, um den kindlichen Bewegungstrieb zu aktivieren, wechselte die Begegnung rasch auf andere Themenfelder. Zweifel kamen auf, ob Gerlachs rigide Ablehnung einer Zuckersteuer und ersatzweise Empfehlung zu mehr aufklärenden Gesprächen tatsächlich einen Widerhall im wirklichen Leben fände. „Eltern kann man nicht mehr umerziehen“, merkte Pfeiffer an.

Etwas Besserung versprechen sich Ministerin und Arzt durch die fortschreitende Digitalisierung

Womit das Gespräch die individuellen Aspekte der Gesundheit von morgen verließ und sich den Blessuren von heute zuwandte. Die zum Beispiel, gerade im ländlichen Raum, immer seltener von einem Hausarzt behandelt werden. Gerlach verwies auf inzwischen eingeführte Anreize für Studierende, entsprechende Verpflichtungen einzugehen. Pfeiffer machte an der Statistik deutlich, dass die Versorgung in definierten Räumen zwar weiter die Vorgaben erfülle. Aber durch Verlagerung von Wohnsitzen in städtische Räume stelle lediglich die dortige Arztpräsenz rechnerisch eine angemessene Versorgung sicher. Für Landbewohner sei sie nur durch längere Fahrtzeiten erhältlich.

Medizinische Versorgungszentren (MVZ), kommunale Kliniken und ihre überlasteten „Notaufnahme-Straßen“, Erreichbarkeit von Kinder- und Jugendpsychiatrie: Welchem Organ des Gesundheitswesens sich das Gespräch dann auch zuwandte, kam es über kurz oder lang zu dem Befund: „Hier braucht es gute Besserung.“ Eine davon versprechen sich Ministerin und Arzt von der fortschreitenden Digitalisierung, die das herrschende Durcheinander im Gesundheitssystem wenigstens ansatzweise aufräumen könnte. Ein Avatar, der im Internet beratend eine Erstdiagnose durchführt, um anschließend den Weg zur richtigen medizinischen Stelle zu weisen, soll zum Beispiel einen Gegenpol zu wilden Suchmaschinenspekulationen und damit ausgelösten Ängsten und Notrufen bilden. Unsicherheit und fehlendes Wissen wirkten in Kombination mit der Überflutung durch beliebige, unüberprüfbare Online-Wahrheiten als Krankheitserreger, waren sich beide am Podium einig.

Selbsthilfe bei Brustkrebs
:„Ich konnte mich kaum im Spiegel anschauen, wenn meine Brust nicht bedeckt war“

Nach einer Brustamputation hat Christiane Haupt eine für sie traumatische Untersuchung erlebt. In ihrer eigenen Selbsthilfegruppe spricht sie darüber – und wie sie es geschafft hat, dass sie der Blick in den Spiegel heute wieder lächeln lässt.

SZ PlusInterview von Johanna Feckl

Für eine Entlastung der Notaufnahmen könnte eine Steuerung sorgen, wie sie die RoMed-Kliniken derzeit im „Rosenheimer Modell“ erproben, das zuverlässig die Behandlung kritischer Fälle beschleunigt. Auch Video-Sprechstunden – „aber nur mit Patienten, mit denen die Ärzte vertraut sind“, so Pfeiffer – sollen das System ebenfalls entlasten und die Versorgung verbessern. Genauso wie es aus seiner Sicht dringend nötig ist, die bisher durch Bürokratie gebremste Koordinierung der behandelnden Stellen zu stärken, um schneller und zielgerichtet zum Wohl der Patienten handeln zu können.

Besorgniserregender Befund: Finanzielle Optimierung ist oftmals wichtiger als menschliche Nähe

Wobei schnell deutlich wurde: Nicht nur in den Apotheken werden derzeit gelegentlich Heilmittel knapp. Auch die hilfreiche Wirkung des Medikaments „Geld“ steht nicht mehr in ausreichender Menge zur Verfügung. Finanzielle Optimierung, so lassen sich die Erkenntnisse der Sonntagsbegegnung zusammenfassen, hat eine Priorität gegenüber menschlicher Nähe und Zuwendung. Dass Controller mächtiger sind als ein ganzheitlicher Versorgungsansatz, zeigt sich an Gerlachs Warnung vor investoren-geführten MVZ: Diese würden sich ertragreiche Rosinen herauspicken und weniger attraktive Aufgaben zur Seite schieben.

„Wir haben zu wenig Menschen im Gesundheitssystem – und zu viele, die es in Anspruch nehmen wollen“, brachte Gerlach die akute Malaise auf den Punkt. Was sich angesichts einer alternden Bevölkerung auf Gebieten wie Geriatrie, Pflege und Demenzbehandlung schon jetzt zeige. Da, wie ein Diskutant einwarf, die zurückliegenden Operationen „seit Seehofers Gesundheitskarte das System kränker und die Versorgung schwächer gemacht“ hätten, ist guter medizinischer Rat dringend erforderlich. Mehr Beweglichkeit, so das intensiv applaudierende Publikum, wäre eine Möglichkeit, mehr Pragmatismus eine andere. In etwa so wie die seit Generationen bewährten Wadenwickel bei Fieber.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Werkstattbericht aus der SZ-Pflegekolumne
:„Die Kolumne hat mich bestärkt: Ich liebe meinen Beruf“

Seit bald vier Jahren gibt es die SZ-Pflegekolumne – dies ist die 200. Folge. Ein Anlass für Pflegekolumnistin Pola Gülberg, einmal innezuhalten und zu reflektieren, was die 40-Jährige selbst über das Projekt denkt.

SZ PlusProtokoll von Johanna Feckl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: