Markt Schwaben:Schnipsel gegen die Schikane

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(Foto: Christian Endt)

Präventions-Coach Carsten Stahl informiert an Markt Schwabens Mittelschule über Gefahren von Mobbing und Ausgrenzung

Von Viktoria Spinrad, Markt Schwaben

Vorne in der Turnhalle hockt ein Koloss von einem tätowierten Mann, schwarzes Hemd, graue Hose, und klatscht im Halbsekundentakt. Ansonsten ist es mucksmäuschenstill. Die Unterstufenschüler der Grafen-von-Sempt-Mittelschule sitzen gebannt auf dem Boden vor ihm. "Ist das viel", flüstert einer. Zu viel, genau genommen: Denn jedes Klatschen steht für eine Situation, in dem ein deutscher Schüler Opfer von Mobbing wird. "Bis zu eine Million Mal pro Woche", sagt der Mann, hinter ihm prangt ein Banner, "Camp Stahl" steht darauf. Carsten Stahl, 44, bekannt aus der Serie "Privatdetektive im Einsatz", heute Coach für Gewaltprävention, redet an diesem Morgen über Schimpfwörter und Folgen von Mobbing.

Wieso die Markt Schwabener Schule den ehemaligen Serienstar eingeladen hat? "Mobbing ist ein Thema an jeder Schule, auch an unserer", sagt Konrektorin Eva Guerin. Die Idee, Stahl auch nach Markt Schwaben zu holen, hatte Lidija Sturman, die Sozialpädagogin der Schule, über das Fernsehen hat sie davon erfahren. "Eigentlich haben wir hier wohlerzogene Kinder", sagt sie. Aber in der Gruppe meinten manche, sie müssten es den anderen zeigen. "An einem dieser Tage, wo ich wegen Zankereien wieder ständig Tränen zu trocknen hatte, dachte ich: Jetzt ist's an der Zeit", erzählt sie. Zwei Stunden nach der Anfrage meldete Stahl sich zurück.

"So", raunt dieser in die Turnhalle hinein, ein paar Kinder lachen, fast schon erschrocken. Welches das schlimmste Schimpfwort sei, das sie kennen? "Hurensohn", sagt ein Schüler. Bald ist die Tafel vollgeschrieben mit groben Beleidigungen, dazwischen immer wieder verlegene Lacher der Schüler, manche verlassen im Laufe der Veranstaltung weinend die Turnhalle. Stahl erzählt von seinem Sohn, der vor vier Jahren von seinem zweiten Schultag an einer Grundschule in Berlin-Köpenick heimkam. Verstört und still sei er gewesen und habe schließlich seine dreijährige Schwester angeschrien mit den Worten: "Halt doch die Fresse". Ein Raunen geht durch die Turnhalle. "Wer hat sich schon einmal ausgegrenzt gefühlt?" Noch bevor er die Frage ausgesprochen hat, schnellen die ersten Finger in die Luft.

Auch Kriminalität beginne an den Schulen, sagt Stahl, seine Stimme erfüllt die Halle. "Und zwar mit Ausgrenzung." Das hat der ehemalige Personenschützer auch Erfahrungen gemacht. Bedächtig, dann wieder hitzig, erzählt Stahl die Geschichte eines Zehnjährigen, der an der Schule immer wieder schikaniert wurde und den sie schließlich in eine Baugrube stießen, um auf ihn zu urinieren. Tagelang habe sich der Junge während der Schulstunden im Keller seines Hauses versteckt, bis die Schule bei den Eltern anrief. "Das war ich!", brüllt Stahl. Viele der betroffenen Gesichter der Schüler wechseln bei dem Blick auf den 115 Kilogramm-Mann ins Ungläubige. Was er damit sagen will: Es ist mutig zuzugeben, wenn man selbst Opfer war.

Stahl tourt mit seinem Camp seit mehr als drei Jahren durch Deutschland. Das Projekt habe er nach dem Vorfall mit seinem Sohn mit eigenem Geld gegründet, erzählt er später. Um seinen Besuch an der Mittelschule zu ermöglichen, hat die Schule Zuwendungen lokaler Banken und des Fördervereins erhalten, so die Konrektorin, den Rest hätten die Eltern gezahlt.

"Versuch doch mal, den Stift zu bekommen" fordert Stahl eine Schülerin vor ihm auf. Sie macht einen Schritt nach vorne, er beugt sich hinunter und deutet an, wie der Stift im Kreis um sie herumgereicht wird. Die Schülerin wirkt hilflos. "Wie fühlt man sich in so einer Situation?", ruft Stahl. "Erniedrigt", sagt die Schülerin und schleicht auf ihren Platz zurück. Auch auf die sozialen Medien kommt er zu sprechen: "Wenn ihr Lügen im Internet verbreitet, dann weiß es sofort ganz Markt Schwaben", warnt er die Schüler. Langsam zerreißt er einen großen weißen Zettel. Fasziniert starren die Schüler auf die Papierschnipsel, die er zwischen sich und den 11- bis 13-Jährigen wie Konfetti hinunterrieseln lässt: die symbolischen Überbleibsel einer vom Mobbing zerrütteten Kinderseele.

Damit die Mittelschüler sich gegenseitig mit Respekt behandeln, unterschreiben Kinder und Lehrer am Schluss auf einem großen Banner. Es soll sie an ihr gegenseitiges Versprechen erinnern: dass die Stärkeren den Schwächeren zu helfen haben. "Sehr bewegend, sehr direkt", resümiert Guerin. Stahl könne eine Nähe aufbauen, die Lehrer ihrer Funktion wegen gar nicht haben dürfen. "Ich hätte mir noch mehr Rollenspiele gewünscht", sagt Andrea Gabler-Coutinho, die Elternbeiratsvorsitzende. Normalerweise seien die Workshops länger, sagt Stahl später, allerdings muss die Turnhalle zum Nachmittag freigemacht werden.

Die Schülerin Estrella, 11, reiht sich in die Schlange für Autogramme und Selfies mit Stahl ein. "Er hat mir die Augen geöffnet, dass Mobbing so schlimm sein kann." Derweil zweifelt der zwölfjährige Mehmet noch, ob der Besuch von Carsten Stahl auch das Ende von Schikanen an der Mittelschule bedeutet: "Ich weiß nicht, ob Mobbing so schnell ganz aufhören wird." Er selber werde manchmal mit "Fettsack" beschimpft, dann habe er bisher eben zurückbeleidigt, wie man das so macht. Was er in Zukunft antworten will, falls er doch wieder beleidigt wird? "Dann werde ich sagen: Denk an den Vertrag, den zu unterschrieben hast."

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