Jugendgewalt im Landkreis:"So etwas habe ich in 23 Jahren noch nicht erlebt"

Jugendgewalt im Landkreis: Mädchengewalt richtet sich meist gegen Gleichaltrige. Nicht selten kennen sich die Täterinnen und ihre Opfer.

Mädchengewalt richtet sich meist gegen Gleichaltrige. Nicht selten kennen sich die Täterinnen und ihre Opfer.

(Foto: imago images/imagebroker)

Innerhalb kurzer Zeit gab es im Landkreis Ebersberg zwei Vorfälle, bei denen Mädchen andere Gleichaltrige angegriffen haben. Was sagen Polizei und Pädagogen dazu: Gibt es einen Trend hin zu mehr Gewalt, die von Mädchen ausgeübt wird?

Von Merlin Wassermann, Ebersberg

Mädchen können alles, was Jungs auch können - und dazu gehört es leider auch, Gewalt auszuüben. Innerhalb nur weniger Tage hat es im Landkreis Ebersberg zwei Vorfälle gegeben, bei denen Gruppen 14- bis 16-jähriger Mädchen Gleichaltrige angegriffen haben: Ende Februar in Grafing und Anfang März in Markt Schwaben. Die Täterinnen waren mit Beleidigungen, Schlägen und Tritten auf die Betroffenen losgegangen, im Grafinger Fall war es laut Polizei davor zu einer Auseinandersetzung in den sozialen Medien gekommen.

Lässt sich hier also ein alarmierender Trend erkennen? Oder war es doch nur Zufall, dass die beiden Vorfälle von Mädchengewalt so dicht beieinander lagen?

Andreas Petermeier, Stellvertretender Leiter der Polizeiinspektion Ebersberg, jedenfalls kann im Landkreis "keine Tendenz" zu mehr Gewaltstraftaten durch Mädchen erkennen: Aus den beiden geschilderten Fällen ließe sich noch kein Trend ableiten, sagt er. Auch Ibrahim Al-Kass, Jugendpfleger in Grafing, sieht keinen vermehrten Anstieg an Gewalt durch Mädchen. Tatsächlich seien die beiden Fälle absolute Ausnahmen: "So etwas habe ich meinen 23 Jahren als Sozialpädagoge in Grafing noch nicht erlebt." Al-Kass sagt, er kenne einige der Namen der Beteiligten in Grafing, sowohl der Täterinnen als auch der Betroffenen. "Diese Gewalt ist absolut unentschuldbar", so der Jugendpfleger. Als solcher stehe er auch in Kontakt mit den Eltern des 14-jährigen Opfers. Diesem gehe es "den Umständen entsprechend" - die Eltern seien verständnislos.

Jugendliche testen häufig Grenzen aus - und überschreiten diese dabei auch

Einen qualitativen Unterschied zwischen Gewalt von Mädchen und Jungen kann keiner der Experten bezeugen. Doch wie kommt es überhaupt zu jugendlicher Kriminalität im Allgemeinen und Gewalt im Besonderen? Das Kreisjugendamt Ebersberg hat hierzu mehrere Thesen aufgestellt. So stelle die Jugend eine Zeit dar, in der im Identitätsbildungsprozess Grenzen ausgetestet und dabei auch überschritten würden. Oft seien sich die Jugendlichen der kriminellen Natur mancher ihrer Handlungen nicht vollständig bewusst. Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wie zunehmende Verstädterung und Anonymisierung förderten Jugenddelinquenz zusätzlich.

Gleichzeitig unterlägen die Heranwachsenden Gruppenzwängen, Mutproben seien häufig erforderlich, um vor den Freundinnen und Freunden als "stark" anerkannt zu werden. Ob Gewalt das leisten kann, ist jedoch fraglich: "Man kann sich mit einer Gewalttat nicht sein Selbstbewusstsein aufbessern", so Martha Golombek, Jugendpflegerin aus Vaterstetten. "Sie ist eher ein Zeichen von Schwäche."

Nicht immer ist es Gewalt - zivilcouragiertes Verhalten kommt unter Jugendlichen ebenso vor

Im Landkreis findet sich denn auch das Gegenmodell zu dieser Art der versuchten Selbstwertsteigerung: Mitte Februar griff die 17-jährige Virgina Ohlmann am Bahnhof in Poing ein, als ein 25-Jähriger auf einen anderen Mann einschlug. Wenig später wurde sie dafür von der Polizei ausgezeichnet.

Dennoch wird Gewalt ausgeübt. Braucht es also eventuell mehr Angebote für Jugendliche, egal welchen Geschlechts? Ibrahim Al-Kass findet, zumindest in Grafing tue man bereits sehr viel: "Es gibt Betreuung von der ersten Klasse an, außerdem Präventionsangebote, das Schülercafé und das Jugendforum." Jugendliche verfügten bereits jetzt über viele Möglichkeiten, aktiv zu werden. Manche Eltern ruhten sich jedoch unter Umständen zu sehr auf den sozialen Dienstleistern aus, so Al-Kass. Sie vernachlässigten die Erziehung - und seien dann "überrascht, wenn das Kind Regeln breche".

Gewaltvideos werden oft über das Internet verbreitet

Mädchen werden also insgesamt nicht häufiger gewalttätig als früher. Eine neue Tendenz lässt sich aber womöglich doch erkennen: Das Internet scheint mittlerweile häufig eine Rolle beim Thema Jugendgewalt zu spielen. "Die Medien sind allgegenwärtig, also gibt es natürlich auch im digitalen Bereich Auseinandersetzungen", sagt Polizist Andreas Petermeier.

Jugendpflegerin Martha Golombek beobachtet indes mit Sorge, wie Videos mit gewaltvollem Inhalt auf Social-Media-Plattformen wie Instagram und TikTok verschickt werden. "Die Verbreitung solcher Videos sorgt womöglich auch dafür, dass es so wirkt, als würde die Gewalt zunehmen", sagt sie. Könnten diese zu Nachahmungstaten führen? Christian Salberg, Leiter der Abteilung Jugend, Familie und Demografie im Landratsamt Ebersberg, verweist in diesem Zusammenhang auf den "fachlichen Diskurs zu dem Thema: Ein tatsächlicher Zusammenhang lässt sich demnach nicht feststellen".

Ibrahim Al-Kass hat seinerseits noch nicht mitbekommen, dass derartige Videos geteilt wurden, es würde ihn aber "nicht überraschen". Insgesamt sei der Umgangston der Jugendlichen in den sozialen Medien rauer geworden, manche Drohungen seien "jenseits von Gut und Böse". Al-Kass führt das zu Teilen auf die Pandemie zurück, das Sozialleben habe sich wegen Corona auch in seinen negativen Aspekten in die Online-Sphäre verlagert. Womöglich hätten sich dort einige Zwistigkeiten angestaut.

Angela Rupp vom Frauennotruf Ebersberg hat ebenfalls den Eindruck, dass digitale Gewalt zunimmt: Mobbing über die sozialen Medien sei häufiger Thema in der Beratungsstelle als früher, und auch Schulsozialarbeiter, mit denen sie in Kontakt steht, erzählten davon.

Es gibt viele Beratungsstellen für Gewaltopfer im Landkreis

Wenn man - als Mädchen, online oder im echten Leben - selbst Opfer einer Gewalttat geworden ist oder eine solche mitbekommen hat, bietet sich der Frauennotruf als eine der ersten Anlaufstellen an: "Wir beraten auch minderjährige Mädchen, und zwar bei allen Formen von Gewalt", erklärt Rupp. Außerdem biete ihre Einrichtung präventive Selbstbehauptungskurse an, mittlerweile auch für zwölf bis 14-Jährige.

Christian Salberg ergänzt die möglichen Anlaufstellen: Neben einer Anzeige bei der Polizei könnten sich Betroffene an den Weißen Ring wenden. Kinder, Jugendliche und Eltern könnten außerdem die Erziehungsberatungsstelle in Grafing in Anspruch nehmen.

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