„Ed Sheeran ist besser!“, hört man beim Betreten des Klassenzimmers im zweiten Stock der Grafen-von-Sempt-Mittelschule Markt Schwaben im Brustton der Überzeugung von einem Mädchen mit Brille. Beim Blick auf die Zweier- und Dreier-Gruppen munter plaudernder Teenager könnte man denken, es sei gerade Pause. Hört man jedoch genauer hin, stellt sich heraus: Hier wird gemeinsam gelernt.
Was unspektakulär aussieht, ist in Wirklichkeit ein singuläres Projekt, denn wer sich hier gerade konzentriert mit der deutschen Sprache beschäftigt, das sind Teams aus Schülerinnen und Schülern verschiedener Schulformen. Und verschiedener Nationalitäten. Denn heute haben Mittelschüler und -schülerinnen, für die Deutsch die Zweitsprache ist, Besuch von Gymnasiasten.

Die Ursprünge dieser Geschehnisse liegen weit in der Vergangenheit. Anfang der Zweitausender Jahre hatte die Markt Schwabenerin Bettina Ismair eine großartige Idee für gelebte Integration: Zugewanderte Grundschulkinder gingen fortan zur Nachmittags- und Hausaufgabenbetreuung in deutsche Familien. Als „Offenes Haus – Offenes Herz“ hatte diese vielfach preisgekrönte Privatinitiative bis 2018 Bestand.
Da sich aber parallel dazu bereits 2007 Lehrkräfte des Franz-Marc-Gymnasiums (FMG) in das Projekt eingeklinkt hatten, wurde es dort weitergeführt. Zunächst in Form eines Wahlfachs, also einer freiwilligen AG. Seit einigen Jahren aber ist das „Offene Haus am FMG“ oder auch „Integration als Schulfach“ sogar Bestandteil des Curriculums der Oberstufe.
Entweder als Profil-Wahlfach „interkulturelle Pädagogik“ mit Klausur und einer Note, die ins Abitur eingebracht werden kann. Oder als reguläres P-Seminar (Projekt-Seminar zur Studien- und Berufsorientierung), an dessen Ende zusätzlich zum Einsatz in der Mittelschule etwa die Entwicklung einer Broschüre steht.

Kein Wunder, dass Schulleiter Peter Popp voll des Lobes ist für dieses mehrfach ausgezeichnete Fach, das Gymnasien sonst nicht anbieten und wofür oft die Nachfrage höher ist als die verfügbaren Plätze. „Wir sprechen hier von Menschenbildung, von lebenspraktischem Lernen, verknüpft mit Soziologie und Pädagogik.“ Zumal das FMG seit einiger Zeit Schule für Inklusion ist und zu deren wichtigen Bildungszielen die Vermittlung des Gedankens gehöre: „Ich lebe nicht in einer Blase!“ Nur so könne man trotz aller Unterschiedlichkeit für gegenseitige Wertschätzung sorgen. „Wenn es dieses Fach nicht gäbe, müsste man es erfinden!“, schwärmt Popp.
Gleichzeitig sei auch klar, dass diese Aktivität der Schule, die nicht zum offiziellen Kanon gehört – „also kein Muss ist, sondern eine Möglichkeit“ – vor allem vom großen Engagement der Lehrkräfte lebe, allen voran Susanne Meedt, Ruth Goldberg-Hübschmann und Birgit Phlippen, die aktuell aus gesundheitlichen Gründen ihr P-Seminar an Alisa Weickert übergeben hat.

Den Lehrerinnen obliegt die Organisation und Realisation der drei Säulen Wahlfach, Profilfach und P-Seminar, in denen, wie Meedt ausführt, insgesamt 42 Gymnasiasten involviert sind. An drei Tagen die Woche begeben sie sich in wechselnder Besetzung für rund eine Schulstunde zwischen Vor- und Nachmittagsunterricht in die Räumlichkeiten der Mittelschule, um dort Jüngere beim Lernen zu unterstützen. Man übt Lesen, erweitert den Wortschatz, arbeitet am Textverständnis, paukt Mathe und Englisch.
Ursprünglich konzipiert ausschließlich für Kinder mit Migrationshintergrund, wurde das Projekt vor einigen Jahren auf Elternwunsch auch auf die Klassen fünf und sechs ausgeweitet. Rund 80 Mittelschüler dürften, schätzt Meedt, von dem Angebot profitieren.
Zu denen gehört auch Aleksandra. Die 14-Jährige, seit drei Monaten in Deutschland, ist mit Monika vom FMG angeregt ins Gespräch vertieft – auf Bulgarisch. Das klappt, weil Monika ebenfalls in dem osteuropäischen Land geboren ist. Mit sechs Jahren kam sie nach Deutschland und weiß ganz genau, wie es sich anfühlt, die Sprache nicht zu sprechen. „Auch mich hat man damals aus dem Unterricht geholt, deswegen fühle ich mich erfüllt, wenn ich helfen kann“, sagt die Zwölftklässlerin völlig ohne Akzent.

Seitens des FMG sind häufig Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund an dem Projekt beteiligt. Dies ist in mehrfacher Hinsicht ein Gewinn. Neben der reinen Wissensvermittlung bieten sie ihren Tandempartnern durch die Möglichkeit der Kommunikation in der Muttersprache eine gewisse Sicherheit. Und liefern, so Mittelschullehrerin Jana Heine, „Ansporn und Vorbild“.
Ihre Kollegin Serina di Bello – „ich bin Halbitalienerin“ – führt im dritten Jahr eine Deutschklasse im Gebundenen Ganztag, wo sich bis zum Nachmittag Unterricht und Vertiefungseinheiten abwechseln. Der verbale Austausch käme im regulären Unterricht oft zu kurz, hier hingegen entstünden durch das Gespräch, „teils auch über private Sachen, Brücken und Freundschaften“. Zudem erlebe sie immer wieder, dass Mittelschüler, die am „Offenen Haus“ teilgenommen hätten, später aufs Gymnasium wechselten.
Das ist jedoch nicht das primäre Ziel. In erster Linie geht es bei Lamek aus Eritrea, Kuzey aus der Türkei oder Kelsy aus Kenia vor allem darum, deutsche Texte zu verstehen, den eigenen Wortschatz zu erweitern, Sicherheit beim Sprechen zu gewinnen. Nabila aus Afghanistan freut sich vor allem, dass sie hier zur Schule gehen darf. Die 15-Jährige betont, wie nett die Gymnasiasten seien, bevor sie im Chor mit ihren Freundinnen ruft: „Sie machen uns sehr glücklich!“ Auch Ermira aus Kosovo würde, in einwandfreiem Deutsch, Tutorin Gamze eine glatte „Note eins“ für deren Einsatz geben.

Gefragt, warum sie sich seit Jahren für das „Offene Haus“ engagiert, äußert Letztere mit großer Selbstverständlichkeit: „Integration ist das Schlüsselelement einer funktionierenden Gesellschaft.“ So hätten es der 18-jährigen Schülersprecherin auch ihre aus der Türkei stammenden Eltern vermittelt.

Es fällt auf, dass in den Schulräumen eine sehr ruhige und konzentrierte Atmosphäre herrscht, obwohl alle gleichzeitig sprechen und immer wieder leise gelacht wird. Die Kinder aus der Mittelschule kommen direkt aus der Mittagspause – wer das Gymnasium besucht, hatte keine. Doch die Jugendlichen opfern ihre Zeit gern, profitieren sie doch selbst von den Übungseinheiten. Das Vertrauen, das man in sie setzt, lässt sie wachsen. Sie genießen die Eigenverantwortung und die Tatsache, dass sie auch selbst Strategien entwickeln dürfen, wie sie ihre Schützlinge bestmöglich fördern können.
„Ganz nebenbei erzieht das Fach auch zu Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit“, erklärt Pädagogin Meedt. Nach Belieben zu kommen oder wegzubleiben sei keine Option. Zudem würden bei theoretischen Einheiten Grundlagen des pädagogischen Arbeitens vermittelt. Mit offenbar ganz praktischen Folgen: Lukas, seit der neunten Klasse Teil des Teams, wurde dadurch zu seinem Berufswunsch inspiriert. Der Zwölftklässler will nach dem Abi Lehrer werden.

Meedts Kollegin Goldberg-Hübschmann ist seit gut 15 Jahren, also von Anfang an, am „Offenen Haus“ beteiligt, in diesem Schuljahr sogar rein ehrenamtlich, weil das Stundendeputat nicht mehr hergibt. Sie erinnert sich an einen Abiturienten, der über das Projekt einst gesagt habe: „das einzig Sinnvolle, das ich am Gymnasium gemacht habe“.
Natürlich gebe es Herausforderungen, zuweilen seien die Klassen sehr groß und die Fluktuation hoch. Dennoch lohne es ungemein, betonen alle Beteiligten. Gerade in einer immer stärker gespaltenen Gesellschaft, sagt Meedt, sei es enorm wichtig, schon bei den ganz jungen Menschen gegen Stereotypen wie „dumme Mittelschüler und arrogante Gymnasiasten“ anzuarbeiten. Ganz zu schweigen von Vorurteilen gegen Migranten.
Am Ende erzählt sie noch, was ihr die Kolleginnen von der Mittelschule zugetragen haben: „Manchmal macht ein Schüler den ganzen Vormittag den Mund nicht auf, aber sobald die Gymnasiasten eintreffen, redet er wie ein Buch.“ Mal über aktuellen Schulstoff – aber auch mal über den eigenen Lieblingssänger.