Markt Schwaben:Das Leben nach dem Genickschuss

Kurz vor seiner Befreiung schoss ihm ein SS-Mann in den Nacken: Der ehemalige KZ-Häftling Lazlo Schwartz erzählt Markt Schwabener Gymnasiasten seine Geschichte.

Karin Kampwerth

23.819 Gedanken, 23.819 Mal tiefer Schmerz, aber auch 23.819 Mal große Dankbarkeit. So viele Tage sind seit jenem schicksalhaften 27. April 1945 vergangen, der Lazlo Schwartz für immer geprägt hat. "Poing is always in my mind. Jeden Tag meines Lebens habe ich an Poing gedacht", sagt der 80-Jährige in einem freundlichen Mix aus Deutsch und Englisch.

Markt Schwaben: Lazlo Schwartz neben dem Poinger Mahnmal, das erst seit einigen Monaten an die schrecklichen Ereignisse des Jahres 1945 erinnert: Schwartz entkam nur knapp dem Massaker, das die Nazis damals an KZ-Häftlingen verübten.

Lazlo Schwartz neben dem Poinger Mahnmal, das erst seit einigen Monaten an die schrecklichen Ereignisse des Jahres 1945 erinnert: Schwartz entkam nur knapp dem Massaker, das die Nazis damals an KZ-Häftlingen verübten.

(Foto: region.ebe)

Schwartz, der heute Leslie mit Vornamen heißt und in New York lebt, ist an diesem Freitag zu Gast am Markt Schwabener Franz-Marc-Gymnasium, um den Schülern von seinem Leben in einer anderen Zeit zu erzählen. Ein Leben, in dem es Menschen gegeben habe, die keine Menschen waren. "Oder wie würdet ihr es nennen, wenn jemand einer Mutter ihr Baby aus dem Arm reißt, um es in die Gaskammer zu werfen?", fragt Schwartz die Schüler des Leistungskurses Geschichte, die ihm eindreiviertel Stunden gebannt, erschrocken, erschüttert und fassungslos zuhören.

Die Erzählungen des kleinen grauhaarigen Mannes, der trotz seines hohen Alters alles andere als greisenhaft wirkt, ist bei aller Emotionalität in keiner Sekunde anklagend. Schwartz ist dankbar, dass es heute viele junge Deutsche gibt, die sich interessieren und mitfühlen. Als der Schulgong dröhnend die Stille durchbricht, denkt niemand an Pause.

Was Schwartz berichte, sei Geschichte zum "Anfassen", sagt Lehrer Heinrich Mayer. Er bemüht sich seit vier Jahren mit Markt Schwabener Gymnasiasten um die Aufarbeitung der NS-Zeit. Die Ergebnisse der Recherchen sind in der Ausstellungsreihe "Vergessener Widerstand" dokumentiert. Mayer war es auch, der den gebürtigen Ungarn Schwartz gemeinsam mit Poings Bürgermeister Albert Hingerl und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten eingeladen hat.

Laszlo Schwartz hat den so genannten Todeszug überlebt, an dessen Insassen die Nazis in Poing ein Massaker verübt haben und dem Schwartz um Haaresbreite zum Opfer gefallen wäre. Der 80-Jährige deutet auf kleine weiße Punkte in seinem braungebrannten Nacken sowie eine Art Grübchen auf seiner rechten Wange. "Hier hinten ist die Kugel rein und hier vorne wieder raus", sagt er und lächelt dabei. Vielleicht, weil er selbst kaum glauben kann, dass er den Genickschuss aus der Waffe eines SS-Offiziers überlebt hat.

"Ich habe meinen Frieden gemacht"

Schwartz war wie Zehntausende andere ungarische Juden aus seiner Heimat in das Konzentrationslager in Auschwitz deportiert worden. Um Mitternacht sei die Familie - Mutter, Stiefvater und die kleine Schwester - bei strömendem Regen angekommen. Man habe sie in Reihen aufgestellt, und er sei unschlüssig gewesen, ob er der Mutter folgen sollte. "Ich habe gespürt, dass etwas nicht stimmt." Es war das letzte Mal, dass er seine Mutter und die Schwester sah. "Sie wurden mit einem Schiff in die Ostsee geschickt und in die Luft gesprengt."

Schwartz, gerade einmal 14 Jahre alt, musste an KZ-Arzt Josef Mengele vorbei. "Ich sollte meine Muskeln zeigen", erinnert er sich. Mengele habe ihn dann zu den anderen Kindern geschickt. Der Stiefvater habe ihm noch auf die Schulter geklopft und geraten, den Anweisungen des Arztes zu folgen. "Dort wirst du ein besseres Leben haben", waren die letzten Worte, die Schwartz von seinem Stiefvater gehört hat.

Wenigstens habe es Sandor gegeben, der - obwohl fünf Jahre älter - sein bester Freund wurde. Gemeinsam überlebten sie die Konzentrationslager in Auschwitz, Dachau, Mittergars, Allach und Mettenheim. Und letztlich auch das Massaker in Poing, wo sich die Häftlinge in Freiheit gewähnt hatten.

Als er den Waggon verlassen durfte, in dem sie dorthin gebracht wurden, habe er sich auf die Suche nach Essen gemacht. Es muss in Grub gewesen sein, glaubt Schwartz, wo er auf den Bauernhof dieser "sweet Lady" traf, der seitdem ein fester Platz in seinem Herzen gehöre. "Ach du armer Kerl", habe sie zu ihm gesagt, geweint und ihm ein Glas Milch und ein Butterbrot gegeben. Dann seien die Nazis gekommen, um die Häftlinge wieder zusammenzutreiben. Dabei habe ihm ein SS-Mann in den Nacken geschossen. Schwer verletzt wurde Schwartz in Tutzing von den Amerikanern befreit.

"Durch die Hölle von Auschwitz und Dachau"

Bevor er in die USA ausgewandert ist, war Schwartz noch einmal in Poing. "Ich habe das Haus dieser Frau gesucht, aber ich konnte es nicht finden." In New York hat er ein neues Leben angefangen, sogar seinen Namen geändert. Die Erinnerungen aber haben einen unauslöschlichen Abdruck in seiner Seele hinterlassen. "Und trotzdem", sagt Schwartz lächelnd zu den Schülern, "habe ich eine deutsche Frau geheiratet." Der Holocaust habe ihm seine Familie genommen. ,"Aber meine Gefühle konnte er nicht vernichten."

Um das Erlebte zu verarbeiten, helfen ihm Gespräche wie das mit den Markt Schwabener Schülern. "Das ist Therapie für mich." Inzwischen hat Schwartz seine Geschichte aufgeschrieben. Das Buch "Durch die Hölle von Auschwitz und Dachau" ist gerade auf Deutsch erschienen. Schwartz ist dankbar, dass er die Vergangenheit nicht mehr verdrängt. "Ich habe meinen Frieden gemacht."

Er weiß aber auch, dass viele Juden unter ihrem Schicksal zerbrochen sind. Wie sein bester Freund Sandor. "Du bist mir immer willkommen, aber bringe sie niemals mit", habe er ihn nach der Hochzeit mit seiner deutschen Ehefrau beschworen.

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