Literarischer Herbst in Zorneding:Erich Kästner und die magische Dreizehn
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Stefan Rautenberg und Jeanine Krause kreieren aus dem Gedichtzyklus eine poetisch-musikalische Revue
Von RITA BAEDEKER, Zorneding
Wie (schnell) die Zeit vergeht, erkennt der Mensch zuverlässig an den Monaten, die in immer wiederkehrender Prozession vorbeiziehen und ihn ebenso zuverlässig wie unaufhaltsam seinem letzten Reiseziel entgegenbringen. In seinem Gedichtezyklus "Die dreizehn Monate" hat Erich Kästner das Werden und Vergehen der Jahreszeiten mit dem Lauf des Lebens verglichen. Hat mit geschärftem Blick Mensch, Natur und das Gewese der (großstädtischen) Welt zu Versen komponiert. Sein Fazit: "Die Zeit vergeht, und sie dauert, und beides geschieht im gleichen Atemzug." Dem Zwölferreigen hat er ein weiteres Mitglied hinzugefügt; einen Wunschmonat, der "Elfember" heißen könnte, und der all das in sich vereint, was an den anderen lebenswert ist: Frühlingsblüte, Sommerfeste, Herbstäpfel, weiß beschneite Tannen, "wir träumten und die Erde wär der Traum". Allein, das weiß Kästner genau, aus zwölf alten Bildern macht man kein neues.
Beim fünften Abend des "Literarischen Herbstes" am Mittwoch im Gemeindesaal der Christophoruskirche kreieren Stefan Rautenberg und Jeanine Krause rund um die Gedichte eine Fülle an Musik, Magie und Poesie. Rautenberg als eleganter und eloquenter Rezitator und Zauberer, Krause, die auf diversen Oboen und Flöten Musik aus dem 13. bis 20. Jahrhundert spielt.
"Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege!" Alles ist auf Anfang gestellt. Doch der Dichter kennt den Winter in Berlin, und er schaut in die Zukunft. Die Amseln frieren, die Krähen darben. Und manches solle im neuen Jahr tatsächlich besser werden - außer uns, versteht sich. Rautenberg illustriert den beginnenden Jahreslauf mit einem klassischen Trick, zaubert ein Seil ohne Ende und dann wieder Enden ohne Seil: "Greifbare Unendlichkeit" nennt er das, ein griffiges Bild der Zeitläufte.
Nach dem Regiment von Prinz Karneval und den Pappnasen erwacht allmählich die Natur. Zeit wird's fürs Grün, auch im Saal. Für die Lichttechnik zeichnet an diesem Abend Peter Wurm vom Verein "Pro Christophorus" verantwortlich. Der zu bedienende Apparat hat jedoch Tücken, der Regler fürs Grün, der wiederholt zum Einsatz kommen soll, will nicht so recht.
Da hat es die Natur einfacher. Kaum hat Kästner zufolge der März den Mond in den April geschickt, schon ertönt die grüne Ostermelodie, hoppeln Hasen, malen. "Dort legen sie Eier, als obs gar nichts wäre, aus Nugat, Krokant und Marzipan. Der Tapferste legt eine Bonbonniere, er blickt dabei entschlossen ins Leere - Bonbonnieren sind leichter gesagt als getan!" Ein Stück aus den sechs Metamorphosen nach Ovid von Benjamin Britten mit dem Titel "England" untermalt den anbrechenden Frühling. Bald setzt Rautenberg den Zylinder auf und grüßt huldvoll aus der unsichtbaren Kutsche, in der sich der Mai, "der Mozart des Kalenders", durchs Land bewegt. Das Gedicht ist ansonsten kurz, viel gibt es ja auch nicht zu sagen zu so viel Glück und Vogelsang. Stark und schön ist er, der Zauberton des Mai. Stark und schön ist auch der Ton der Zauberflöte, die Krause jetzt anstimmt.
Das halbe Jahr ist rum, das Reich des Bacchus bricht an. Der Juni verwandelt die Welt, bringt Glühwürmchen, Kirschen, Gartenfeste. Entsprechend trunken klingt Brittens Musik, und Rautenberg verwandelt einen Bogen ziehharmonikaartig gefalteten Papiers im Handumdrehen in Dinge wie Krawatte, Fächer, Bauchladen, Schirm und Cocktailglas. Die Menschen, sie halten im Juli sowieso die Welt für ein Bilderbuch. Mit "Summertime" aus der Oper "Porgy and Bess" von George Gershwin hält der Monat Einzug, in dem alles an Sommergäste vermietet wird: Himmel, Sand, Platzmusik, sogar der Blick auf die Kuh auf der Weide. Doch die Zeit, sie bleibt nicht steh'n. "Nun hebt das Jahr die Sense hoch und mäht die Sommertage wie ein Bauer". Mit diesen Worten beginnt das Augustgedicht. Doch Achtung! "Nichts bleibt, mein Herz. Und alles ist von Dauer." In Schuberts Lied "Am Brunnen vor dem Tore" erblüht eine erste Ahnung von Verlust und Abschied, einem Abschied mit Posaunen, Bauernball und Erntedank.
Das Jahr wird älter, die Luft kälter, das Licht fahler. "Blätter tanzen sterbensheiter ihre letzten Menuetts." Noch einmal steht die Welt in Farben. Der Satz "Corrente" aus Bachs virtuoser auf der Barockoboe gespielter Partita gibt dem Oktober den unruhig-herben Takt. Grau sind die Tage im Trauermonat November, der Winter hockt in den Startlöchern respektive auf kahlen Zweigen. "Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor", dichtet Kästner lakonisch. Rautenberg gibt der elegischen Stimmung indes nicht allzu viel Raum, sondern veranstaltet ein Gedankenlese-Experiment. Wunderbarerweise klappt die Nummer, auch wenn es sicher nicht telepathische Fähigkeiten sind, die dahinterstecken.
Doch die schönsten Wunder stehen noch bevor. Die Lichtregie produziert zur Freude des Publikums über Decke und Wände tanzende Schneeflocken, Krause "fantasiert" nach weihnachtlichen Weisen. Doch "bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag. Dann dröhnt das Erz und spricht: Das Jahr kennt seinen letzten Tag, und du kennst deinen nicht." Bis dahin jedoch darf man wünschen und träumen. Der Dichter sagt es mit diesen Worten: "Plündre den Schatz des ungeschehen Schönen!"
Stefan Rautenberg und die amerikanische Musikerin Jeanine Krause kreieren wundersame, Glück stiftende Momente. Beider Kunst verdient heftigen Applaus. Zuweilen geht jedoch der Ideenreichtum des Duos auf Kosten der Gedichte, dieser ebenso tiefsinnigen wie heiteren und nachdenklich stimmenden Verse, die etwas mehr Raum brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten.
Literarischer Herbst in Zorneding: Am Mittwoch, 13. November, 20 Uhr, lesen Carolin Schubert, Till Gerhard und Peter Wurm im Gemeindesaal aus dem Briefwechsel bekannter Persönlichkeiten, darunter Liebesbriefe sowie komische und skurrile Korrespondenz. Der Eintritt ist frei, Spenden sind erwünscht