An dem Ort, an dem es an diesem Nachmittag um Neugeborene gehen soll, um Mütter, und darum, was vor beinahe siebzig Jahren stärker gewesen sein kann als die Liebe zwischen beiden, stiehlt sich Walter Beausert kurz davon und zündet sich auf dem nassen Asphalt eine Zigarette an. Der ehemalige französische Automobilarbeiter atmet aus. Lockert die Muskeln. Lächelt ein faltiges Lächeln, für das es in dem Moment keinen Grund gibt außer den, dass jetzt einmal niemand von Schrecken spricht und auch fast niemand auf Walter Beausert schaut. Und lässt den Blick über das Gelände schweifen, dessen Konturen der Regen gnädig weich gezeichnet hat. An dem Gebäude des Steinhöringer Betreuungszentrums, wo heute zwischen Bäumen und einem Weiher Menschen mit Behinderung umsorgt werden, erinnert nichts mehr an jene Brutstätte des Arierwahns, welche die Nazis hier einst betrieben. Steinhöring, das war der Ort des ersten Lebensbornheims der SS, des "Heim Hochland". Und Walter Beausert, so hat er später erfahren, war als Säugling hier. Heute, im Alter von 68 Jahren, ist er zum zweiten Mal zurückgekehrt, um etwas zu erfahren über die Menschen, die seine Eltern waren. Nur drückt er es anders aus. "Darüber, wer ich bin", sagt er heiser, auf französisch. Tags zuvor ist man in Bad Arolsen gewesen. Beausert war dorthin gemeinsam mit einer weiteren Besucherin aus Frankreich gereist, Gisèle Niango, 69. Zwei Forscherinnen des Internationalen Suchdienstes (International Tracing Serice, ITS) nahmen die beiden in Empfang, sie hatten dort alle verfügbaren Dokumente zusammengetragen, auf Vermittlung der Steinhöringer Lokalhistorikerin Anna Andlauer. Beausert und Niango verbindet, dass sie erst spät in ihrem Leben in Erfahrung bringen konnten, wo sie die ersten Monate ihres Lebens verbracht haben. Es sind drei Ortsnamen: Wegimont in Belgien, Schalkhausen in Mittelfranken, Steinhöring. Alles drei sind Orte einstiger Lebensbornheime der Nazis. In Bad Arolsen gab es nun für Beausert wieder ein Paket mit Papieren, wie schon 1993, als er erstmals die Reise nach Deutschland machte. Mit NS-Symbolen verzierte Bescheinigungen über die Gesundheit des Säuglings Walter Beausert. Bescheinigungen darüber, dass er nicht jüdisch sei. Und ein Foto, auf dem ein Wehrmachtssoldat und eine Frau zu sehen sind. Vielleicht seine Eltern. Das Bild kennt Walter Beausert schon. Er erzählt die Geschichte einer furchtbaren Verwechslung: Beauserts Mutter habe im Lebensbornheim der Deutschen in Belgien als Krankenschwester gearbeitet, sagt er, sei also eine Mitarbeiterin gewesen, keine Bewohnerin. Ihren eigenen Säugling habe die Mutter aber mit den in der Einrichtung geborenen Kindern spielen lassen, jenen, in denen der Lebensbornverein der SS laut Statut den "Adel der Zukunft" sah. Und als die Kinder gegen Kriegsende eilig ins Reichsinnere verlegt wurden, sei Walter Beausert eben in dem Durcheinander mitgezogen worden - nach Steinhöring. Als der Krieg vorbei war, sei er dann nach Frankreich versprengt worden, stets unter seinem richtigen Namen. Dort wuchs er in Waisenhäusern auf. Gisèle Niango hat ihre Geschichte erst jetzt, in Bad Arolsen, erstmals gehört. Niango hat in Frankreich einen Afrikaner geheiratet, ihre beiden Söhne sind mit nach Steinhöring gekommen und halten jetzt den Regenschirm über sie. Die Papiere, die Gisèle Niango in Bad Arolsen bekommen hat, erzählen von keiner furchtbaren Verwechslung, sondern von einer furchtbaren Planmäßigkeit: Auch sie wurde in Wegimont geboren und kam über Schalkhausen nach Steinhöring. Allerdings als Tochter einer Bewohnerin des Lebensbornheims. Die wollte das Kind nicht aufziehen. Gisèle Niango möchte mit niemandem sprechen, nur die Dolmetscherin deutet später an, dass es Tränen gegeben habe in Bad Arolsen. Im Gebäude des Steinhöringer Betreuungszentrums gibt es jetzt Kaffee. Johann Preimesser vom Steinhöringer Heimatverein plaudert mit der Familie Niango. Und vor dem Gebäude, beim Aschenbecher, entschließt sich Walter Beausert, auch hinein zu gehen.
