Heim "Hochland" in Steinhöring:Lebensbornkind L6401

1409 Kinder kamen im ersten "Lebensborn"-Heim der Nationalsozialisten im oberbayerischen Steinhöring bei Ebersberg zur Welt. Eines davon war Ursula J., Tochter eines hohen SS-Offiziers. Doch nach 1945 wollte keiner mehr etwas vom Elite-Nachwuchs der SS wissen - zurück blieb ein ungeliebtes Mädchen, das es erst als Erwachsene fertiggebracht hat, die Frage nach ihren wahren Eltern zu beantworten.

Ronen Steinke

Die Fingernägel von Ursula J. sind in so hellem Rosa lackiert, dass sie beinahe schon wieder die Farbe von Fingernägeln haben. Die Fingerspitzen tippen die Kellnerin mit ausgesuchter Höflichkeit an, verscheuchen eine Fliege so rücksichtsvoll, als geleite man einen betrunkenen Freund zum Ausgang. Nur einmal inmitten der vielen kleinen Gesten, die ihre Stimme untermalen, steht der Zeigefinger aufrecht. Er wird aber, noch bevor die Geste unhöflich werden könnte, wieder eingerollt.

Lebensborn, Steinhöring

1409 Kinder sind zwischen 1936 und 1945 im Haus "Hochland" in Steinhöring auf die Welt gekommen. Ursula J. war eines dieser Kinder.

Ursula J., 69, hat sich dieses Familienlokal in Steinhöring ausgesucht, weil sie es hier, wie sie sagt, erstmals im Leben fertiggebracht hat zu hassen. Es ist noch nicht lange her.

Nur wenige hundert Meter von hier wurde sie geboren, als Lebensbornkind L6401. In Steinhöring stand die erste Einrichtung des nationalsozialistischen "Lebensborn"-Programms, vor 75 Jahren wurde es eröffnet. Gehadert hat Ursula J. in ihrem Leben aber weniger mit der großen, perversen Hoffnung der Nationalsozialisten, wie sie sagt - die kann man ja schnell als Wahn abtun. Sondern mehr mit den kleinen, banaleren Hoffnungen, die an diesem Ort auch aufeinandertrafen.

Von jungen Schwangeren wie der Mutter von Ursula J. zum Beispiel. Im Alter von 21 Jahren hatte sie sich mit einem SS-Offizier eingelassen, der beinahe doppelt so alt war wie sie und als Leiter eines "Umsiedlungslagers" in Salzburg einen Chauffeur zur Verfügung hatte. "Er hat etwas dargestellt", erzählte die Mutter später einmal.

Als sie schwanger wurde und der SS-Mann ihr eröffnete, dass er verheiratet sei, wich die Hoffnung der 21-Jährigen auf den sozialen Aufstieg der Angst vor dem sozialen Stigma. Das Lebensbornheim "Hochland" der SS in Steinhöring versprach, ihr das Problem diskret wieder abzunehmen. Zwei Wochen, bevor Ursula J. zur Welt kam, "vermachte" die Mutter die Leibesfrucht dem "Lebensborn e.V.". Das war 1942.

Als das NS-Regime unterging, blieb statt einer Verheißung nur ein Kind

Die Frau, die das Kind zwei Jahre später zu sich nahm, hoffte ebenfalls: Die 41-jährige Ostpreußin war kinderlos, ihr Mann im Krieg. Ein Kind aufzunehmen bedeutete, vom Arbeitsdienst befreit zu werden, mehr noch aber: Das kleine Mädchen mit den blonden Locken gehörte, wie die SS unterstrich, zu einer strengen Auslese, es verhieß die Zugehörigkeit zu einer elitären Gemeinschaft.

Die 41-Jährige beeidete also ihre nationalsozialistische Gesinnung und nahm das Mädchen auf. Als im Jahr darauf das NS-Regime unterging, blieb statt einer Verheißung aber nur ein Kind übrig, das hungrig war wie alle anderen - und in den Augen der Adoptiveltern, so glaubt Ursula J. heute, 66 Jahre später, mit einem Mal auch so etwas wie ein Kuckuckskind.

Unglückliche Kindheiten gab es in den 1950er Jahren zweifellos viele, sagt sie. Die Vermieter, die hören konnten, wie die Adoptivmutter und deren neuer Freund das kleine Mädchen verprügelten und es "Biest" und "Bastard" nannten, hörten so etwas vielleicht nicht zum ersten Mal. In der Schule war sie nicht die Einzige ohne Vater, auch nicht die Einzige, deren Erziehungsberechtigte sie später in ein Internat schickten, viele hundert Kilometer entfernt. Aber die Vorwürfe zu Hause unterschieden sie. "Hätte ich doch nur ein ostpreußisches Kind genommen", sagte die Adoptivmutter oft - als sei sie, die Ostpreußin, durch die SS betrogen worden.

"Wer schlägt jetzt Euch?"

Genaueres erfuhr Ursula lange nicht, nur einmal, dass ihr leiblicher Vater ein hoher SS-Offizier gewesen sei. Von diesem Schweigen zu Hause erzählen viele der ehemaligen Lebensbornkinder, mit denen Ursula J. heute über den Verein "Lebensspuren e. V." Kontakt hält. Und auch davon, dass Kinder deutlich merken: Wenn etwas so verheimlicht wird, muss es etwas Furchtbares sein.

Heim "Hochland" in Steinhöring: Die heute 69-Jährige Ursula war das Lebensbornkind L6401. Die Frage nach ihren wahren Eltern hat sie sich erst als Erwachsene zu beantworten getraut.

Die heute 69-Jährige Ursula war das Lebensbornkind L6401. Die Frage nach ihren wahren Eltern hat sie sich erst als Erwachsene zu beantworten getraut.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Als Ursula J. im Alter von 17 Jahren erstmals einen Film über die Judenvernichtung sah, schämte sie sich und ließ für einige Jahre ganz von der Frage ab, warum ihr leiblicher Vater sie nicht behalten hatte.

Von der Adoptivmutter, so erzählt Ursula J. heute, war ihr das Gefühl eingeimpft worden, sie sei undankbar und auch das bisschen Zuneigung nicht wert, das sie bekam. Sie heiratete, zog nach Reutlingen in Baden-Württemberg, hoffte auf eine heile Ehe, wünschte sich Kinder. Nichts davon klappte. Sie machte ein wenig Karriere bei einem Computerkonzern, war gut in dem, was sie tat. Bis sie in den 1990er Jahren von einer Kündigungswelle erfasst wurde.

Die Frage nach ihren wahren Eltern hat sie sich erst als Erwachsene zu beantworten getraut - es war dann eigentlich ganz leicht. Der Ortsname Steinhöring stand ja in der Geburtsurkunde, die Standesbeamten dort waren hilfsbereit. Ursulas J.s leibliche Mutter lebte in der DDR, durfte im Alter von 65 Jahren einmal ausreisen, nur entsprach sie so gar nicht dem Sehnsuchtsbild, das sich das Mädchen einst von ihr gemalt hatte. Die Mutter bereute nichts. Sie wollte auf keinen Fall, dass der Fehltritt aus ihrer Jugend bekannt wird.

Ihren Vater, den SS-Mann, suchte Ursula J. erst im Jahr 1999, als der 1899 Geborene längst tot war; und ausgerechnet aus der Entdeckung des Vaters, den sie so lange gefürchtet hatte, schöpfte sie dann geradezu Kraft. Im Steinhöringer Geburtenregister stand, dass der SS-Offizier die Vaterschaft anerkannt hatte: "Wenigstens einer, der mich anerkennt", dachte Ursula J. Über die "Wehrmachtsauskunftsstelle" in Berlin fand sie seine Witwe - und freute sich zu hören, dass der Vater in all den Jahren angeblich nach ihr gesucht habe.

Das machte Mut. Bei ihrem letzten Besuch in Steinhöring, wenige Jahre ist das her, hat Ursula J. es dann übers Herz gebracht, so etwas wie Hass für die Adoptivmutter aufzubringen. Hier im Lokal trank sie einen Kaffee wie jetzt, sammelte nach einer Besichtigung des einstigen "Lebensborn"-Geländes Kraft. Und schrieb schließlich zwei dürre, böse Sätze auf eine Postkarte. "Wenn ich gelogen habe, habt ihr mich geschlagen. Wer schlägt jetzt Euch?" Das war der letzte Kontakt.

Zerstreuung findet Ursula J. heute in Büchern und Filmen, "komischerweise", sagt sie, lese sie gerne über Schicksale im Holocaust. Ursula J. zählt ein paar Beispiele auf: Der Film "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni, der Vater, der als KZ-Häftling für seinen Sohn Grimassen schneidet und mit ihm gemeinsam in eine Traumwelt flüchtet. Oder die Biographie einer jüdischen Mutter, die mit ihren Kindern ins KZ verschleppt wird "und den Kindern immer Zettelchen schreibt". Es sind Geschichten von Familien, die zusammenhalten.

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