Süddeutsche Zeitung

Poinger Lange Nacht der Musik:Einmal Rock tanken, bitte!

Lesezeit: 3 min

42 Ensembles, 30 Locations: Bei der Langen Nacht der Musik in Poing fällt die Auswahl schwer. Ungewöhnliche Spielorte, bunte Vielfalt der Stile und Lebensfreude nach Noten prägen das Ereignis.

Von Ulrich Pfaffenberger, Poing

"Sie dürfen auch immer mitsingen. Wir haben auch ein paar Kanons dabei. Wenn Sie noch kein Liedblatt haben, die liegen dort hinten aus..." Zwei Dutzend Menschen, die es sich in den Bänken der Rupert-Mayer-Kirche bequem gemacht hatten, stehen noch einmal auf und streben in die genannte Richtung. Ein Pärchen allerdings nutzt die Gelegenheit, sich wieder davonzustehlen. "Kanon habe ich in der Schule schon gehasst", murmelt er seiner Begleiterin zu. Für alle anderen beginnt eine Stunde in der "Langen Nacht der Musik" in Poing, in der sie selbst dazu beitragen, die Klangwolke im Ort zu vergrößern.

Wobei das mit der Wolke bei der sechsten Auflage der Veranstaltung so seine Sache ist: Es regnet zwar nicht, aber es pfeift ein kalter Wind. Alle Auftritte sind ins Innere verlagert, "Kammermusik" sozusagen. Was unter freiem Himmel angekündigt war, ist zum Teil abgesagt. Wer sich keinen Plan zurechtgelegt hat, sondern spontan genießen will, kann sich also nicht von Klängen inspirieren lassen, denen man auf gut Glück folgt - sondern von den vielen kleinen Grüppchen und größeren Passantenströmen, denen man sich auf gut Glück anschließt. Als gute Idee erweist es sich auch, an den Haltestellen des Shuttle-Busses schnell Stimmungen und Empfehlungen abzufragen: "Wo kommt ihr her?" und "Wie war's dort?" Diese unmittelbare Kommunikation ist erstaunlich in der Zeit von Social Media - und erfreulich zugleich.

Einer der Orte, an denen der fliegende Wechsel zwischen den Tonarten von vorneherein eingeplant ist, sind die beiden Bühnen in der Seerosenschule und der Anni-Pickert-Schule. Vor vollem Haus zeigt dort das Orchester von Accordeonissimo, wieviel Leidenschaft aus seinen Instrumenten klingt, wenn das Ensemble in cleveren Arrangements bekannte Filmmusik spielt. Dann geht es über den Hof, um den Klezmer-Stücken von Freylach Zayn zu lauschen, aufgeladen mit Geschichten und Gefühlen, aber auch so viel Energie, dass es die Ersten zum Tanzen verlockt. Die Umbaupause führt zurück über den Hof, wo inzwischen die Lokalmatadoren von Puls mit Verve in die Saiten greifen und Rock'n'Roll zelebrieren, wie er noch jede Hochzeits- oder Betriebsfeier auf die Beine gebracht hat.

Am Anfang dominiert Location-Hopping, das ändert sich im Laufe des Abends

Zu fortgeschrittener Stunde fallen die Entscheidungen "Weitergehen oder weiter bleiben?" erkennbar schwerer. Immer wieder sind Paare oder Gruppen zu beobachten, bei denen jemand das Programmheft aus der Tasche zieht, durchblättert, die anderen mit fragendem Blick ansieht und dann mit einem lockeren Schulterzucken ein Votum für "Bleiben" abgibt. Dabei wäre dieses mitreißende 60er-, 70er-Jahre Musikgefühl auch bei Gainesville abzurufen, die in den Werkstätten der Bayerischen Staatsoper lässig-fetzig aufspielen. Oder beim satten Sound von Full-Funk-Power in der Karl-Sittler-Schule.

In den frühen Stunden der langen Nacht dominiert in der oberflächlichen Wahrnehmung ein Effekt: das Hopping von Station zu Station. Immerhin 30 davon sind über das Gemeindegebiet verteilt, an denen insgesamt 42 Ensembles auftreten. Neben den spontanen Musik-Reisenden haben sich offenbar auch reichlich Menschen mit umfassenden Hör-Plänen auf den Weg gemacht. Sie gönnen sich hier ein Viertelstündchen und dort ein halbes Set, um dann wieder zur nächsten Station zu eilen. Beide Strategien haben etwas für sich. Die einen können einer geplanten Route von Musikstilen und Sound-Temperamenten folgen, die anderen dürfen sich von spontanen Entdeckungen hinreißen lassen.

Das Organisations-Team hat tolle Arbeit geleistet: Für jeden ist etwas dabei

Wer sie auf ihrem Weg durch den Ort eine Zeitlang begleitet, spürt jedenfalls bei beiden Gruppen einen ähnlichen Grad an Vorfreude auf das Kommende und an Begeisterung über das gerade Gehörte. Im Lauf des Abends vermischen sich die beiden Fraktionen, man lässt es langsamer angehen, verweilt irgendwo auch einmal länger, immerhin ist es gelungen "einen guten Platz" zum Sitzen zu finden, oder man zeigt sich großzügig: "Die geben doch demnächst sowieso ein Konzert, gehen wir halt dann hin."

Wofür sich das Organisations-Team der "langen Nacht" einen Orden verdient hat, ist die Fülle des Menüs, das sie servieren und mit dem sie eine große Bandbreite an musikalischen Geschmäckern erfreuen. Da gibt es anmutig-klassisches wie die fröhlichen Klarinetten-Stücke der Poingerin Lisa Riepl zusammen mit ihrer Klavierbegleiterin Antonia Miller in der Christuskirche, nachdenklich-heiteres vom Liedermacher Jan Wannemacher, der in einer Pizzeria aufspielt, flotten und sinnlichen Jazz von The Summerhouse Five ebenfalls in der dafür akustisch überraschend einladenden Christuskirche oder eine ungewöhnliche Interpretation des Programmpunkts "Blasmusik" durch das Ensemble Funkenflug ebenfalls dort. Weit davon entfernt, "alles" abzudecken, was der Begriff "Musik" hergibt, gibt es gleichwohl einen verbindenden Gedanken, der sich an diesem Abend beweist: Musik ist Lebensfreude pur.

Wozu nicht zuletzt einige eher ungewöhnliche Spielstätten beitragen. In der Campingabteilung des Baywa-Marktes etwa, gegenüber von Zimmerpflanzen und Tiernahrung, widmet sich der Poinger Dreigesang, begleitet von der Zither, der ortsgerechten gesanglichen Betrachtung von "Rosenstraucherl kahl" und den "Bleamerln dahin", kurz unterbrochen von der Lautsprecherdurchsage, ein Mitarbeiter möge sich bitte zum Holzabschnitt begeben und begleitet vom rhythmischen Klappern eines Einkaufswagens, dessen Nutzerin ihr unfreiwilliges Mitwirken am Gstanzl zu spät bemerkt und mit einem verlegenen Lächeln begleitet. Überraschend auch die harten Rock-Riffs, die an diesem Abend aus dem Verkaufsraum der OMV-Tankstelle klingen, in denen die drei Musiker von Brockhouse von "Beds are burning" über "Policy of truth" bis "Turn the page" all die Klassiker so punktgenau und mitreißend abrufen, dass jedem Rocker das Herz bebt. Auch wenn er an diesem Abend eigentlich nur vorbeigekommen ist, um seinen Golf aufzutanken und eine Currywurst zu verdrücken.

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