Ein Blick auf die Lärmkatasterkarte: Die dunkel gefärbten Straßen
wirken wie ein Netzwerk aus Adern, das den Landkreis Ebersberg durchzieht und durch das Menschen und Material von einem Punkt zum anderen gelangen. Mit ihnen wird dabei allerdings immer ein unerwünschtes Nebenprodukt transportiert: Lärm.
Lärm - definiert als "unerwünschter Schall", wie der Professor für Akustik Bernhard Seeber von der Technischen Universität München erklärt - ist beileibe kein neues Phänomen. Viele Menschen leiden unter Lärmbelastung, sie ist ein allgegenwärtiges Umweltproblem. Studien assoziieren chronische Lärmbelastung unter anderem mit erhöhten Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen. Doch wie sieht die konkrete Lebensrealität der Menschen im Landkreis aus, die mit dem unliebsamen Schall leben, lernen und arbeiten müssen? Und was lässt sich tun?
Eine, die vom Lärm ein Lied singen kann, ist Else Schmid. Die 85-jährige Neufarnerin, die in Wirklichkeit anders heißt, wohnt nah an der A94. Die Belastung empfinde sie als "katastrophal schlimm". Nicht nur, weil an einer Kurve der Autobahn keine Sträucher wachsen und damit die Schallwellen ungebremst über den kleinen Ort hereinbrechen. "Besonders heftig ist es, wenn die Ernte eingefahren wird." Von vier Uhr morgens an fahren dann die Traktoren durch den Ort.
An Schlafen sei dann nicht mehr zu denken, sagt sie. Da habe auch der Umzug ins ehemalige Kinderzimmer nichts geholfen, das weg von der Straße liegt. Einer der Gründe, weshalb Lärm gesundheitsschädigend ist, liegt an den Schlafstörungen, die er verursacht. In einem Bericht von 2011 stellte die WHO fest, dass die Hälfte der jährlich lärmbedingt verlorenen gesunden Lebensjahre in Europa auf Schlafstörungen zurückzuführen sind.
Die Lärmbelastung war aber nicht immer so hoch, zumindest nicht für Else Schmid. Sie wohnt seit 1960 in Neufarn, damals gab es noch nicht einmal eine geteerte Straße. "Das ist überhaupt kein Vergleich", sagt sie, wenn sie jetzt an die Autobahn denkt und an die vielen Poinger, die morgens durch Neufarn fahren, um dem Stau auf der A94 zu entgehen.
Ab einem gewissen Dezibelwert löst der Körper eine Stressreaktion aus
Auch Angelika Richter hat beobachtet, wie der Verkehr zugenommen hat. Die Yogalehrerin lebt und arbeitet in Steinhöring, direkt neben der B 304, die täglich Tausende Autos durch den Ort pumpt. "Es kommen jetzt vor allem mehr Lastwagen, die von Traunstein nach München fahren", berichtet Richter, die seit 1997 neben der Straße versucht, für sich und andere innere Ruhe zu finden. Die Lärmschutzwand direkt vor der Haustür helfe da nur bedingt.
Anfangs habe sie noch gehofft, so Richter, dass die Straße verschwindet, also verlegt wird. Mittlerweile versuche sie, den Berufsverkehr morgens und Abends einfach auszublenden, was aber schwer sei. "Da gewöhnt man sich nicht dran", sagt Richter. Zu unregelmäßig sei die Geräuschkulisse.
Sie verweist damit auf die subjektive Komponente, die der Wahrnehmung von Lärm innewohnt. "Lärm kann auch ein tropfender Wasserhahn sein, wenn er als störend empfunden wird", wie Bernhard Seeber von der TUM sagt. Ab einem gewissen Dezibelwert jedoch löst der Körper eine Stressreaktion aus, selbst wenn der Lärm als wenig störend empfunden wird, wie es in einem Bericht des Umweltbundesamtes von 2016 erklärt wird. Hält sich die physiologische Reaktion bei 55 Dezibel - die hellorangene Farbe auf der Karte - noch im Rahmen, ist sie bei 75 Dezibel und darüber - die blaue Farbe in der Mitte der "Adern" - ausgeprägt.
Die Bahn wirkt bei gleichem Pegel weniger störend als die Straße
Viele Orte im Landkreis sind auf diese Weise farbenunfroh, doch manche trifft es besonders hart. Darunter ist auch Kirchseeon, wo die Bewohner mit der Doppelbelastung der B 304 und ortsnahen Gleisen fertig werden müssen. Monika Riederer wohnt genau zwischen diesen Lärmschneisen, bereits seit 1963.
"Das Sitzen auf der Terrasse macht nicht mehr viel Spaß", so Riederer. Schuld daran sind insbesondere Motorradfahrer und der Berufsverkehr. Und nachts rollen dann noch lange Güterzüge auf den nur wenige hundert Meter entfernten Schienen vorbei. "Da wache ich schon manchmal auf", meint sie. Es hilft auch nicht, dass es im Augenblick genau an dieser Stelle keine Lärmschutzwand gibt und die Bahn Richtung Süden abgeholzt hat.
Die Straße empfinde sie trotzdem als deutlich schlimmer. Das deckt sich mit Beobachtungen aus der Forschung, wie Bernhard Seeber von der TUM berichtet: "Bei gleichem Pegel wird die Bahn als weniger störend empfunden. Das liegt zumindest teilweise am anderen Klang der Autos." Die Riederers haben sich inzwischen so gut es geht mit dem Lärm arrangiert. Ihr Sohn habe sich jedoch lange Zeit extrem belastet gefühlt. "Er öffnete fast nicht mehr das Fenster", erzählt Riederer.
An der Grund- und Mittelschule Kirchseeon lässt man die Fenster wenn möglich lieber zu
Das war womöglich zu seinem Besten. Laut des Berichts des Umweltbundesamtes beeinträchtigt Lärm nämlich auch die kognitive Entwicklung von Kindern. Diese seien bei kontinuierlicher Lärmbelastung eine "besonders vulnerable Gruppe". Ein Beispiel: das Lesen lernen in der Schule. Bei einem Anstieg des "Dauerschallpegels" um zehn Dezibel "verzögert sich der Erwerb der Lesekompetenz um einen Monat".
Das sind keine gute Nachrichten für Franz Kraxenberger von der Grund- und Mittelschule Kirchseeon. Die Lärmbelastung sei dort schon seit Jahrzehnten "hoch bis sehr hoch", wie der Schulleiter sagt. Als Konsequenz waren die Fenster in den Klassenzimmern meistens zu, insbesondere bei denen, "die zur B 304 herausgehen. Da kann man eigentlich kein Fenster öffnen, das ist uferlos", so Kraxenberger. Während der Corona-Hochphasen sei dann beim Lüften neben der Kälte auch der Lärm in die Zimmer gedrungen. Welche Auswirkungen dies alles auf die Schülerinnen und Schüler hat, ist schwer festzustellen.
In Markt Schwaben wird über ein Tempolimit diskutiert
Doch was hilft gegen den Lärm? Worauf man nicht zu hohe Hoffnungen setzen sollte: "Der Vorteil, den E-Autos bringen, ist nicht sehr groß", sagt Bernhard Seeber von der TUM. "Insbesondere auf weitere Strecken sind die Rollgeräusche das größere Problem als Motorgeräusche." Auch die Verkehrswende hin zu mehr Fahrrädern und öffentlichen Verkehrsmitteln werde nur geringfügige Linderung bringen. Zwar funktioniert die Schallskala logarithmisch, was heißt, dass eine Steigerung oder Senkung von zehn Dezibel als doppelt so laut oder leise empfunden wird. Doch selbst eine Halbierung des Verkehrs würde nur drei Dezibel einsparen, so Seeber.
Tempolimits könnten da schon mehr bringen. Immer wieder werden diese für verschiedene Orte im Landkreis diskutiert, zuletzt für Kirchseeon. Doch auch im lärmgeplagten Markt Schwaben denke man darüber nach, wie Bürgermeister Michael Stolze berichtet. Statt der Autobahn benutzen viele Autofahrer allein schon aus Gewohnheit den Ort als Durchgangsstraße. Und viele kommen mit dem Auto, um in Markt Schwaben in die Bahn umzusteigen.
"Das Thema wurde lange vernachlässigt"
Nahe einer Schule wurde deswegen eine Testinstallation mit Tempo 30 errichtet, man denke auch über intelligente Ampeln nach. "Wir sind dabei, ein Verkehrsgutachten zu erstellen, um herauszufinden, was den größten Effekt hat", so Stolze. Wie viel das wirklich bringt? Offen. Stolze verweist darauf, dass das Thema gesamtgesellschaftlich und über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. "Das liegt auch daran, dass es sich bei der Erhöhung der Lärmbelastung um einen schleichenden Prozess handelte", meint er. Dabei sei der wichtigste Faktor bei der Lärmbekämpfung das Stadtdesign, bestätigt Bernhard Seeber.
Die meisten Städte und Gemeinden sind längst designt und Lärmschutz stand selten ganz oben auf der Agenda. Höchstens im Zuge der Nachverdichtung besteht nun die Möglichkeit, Lärm als gesundheitsschädliches Umweltproblem ernst zu nehmen. Mit Schallschutzfenstern, Ohrstöpseln und Yoga-Gelassenheit versuchen Else Schmid, Angelika Richter und Monika Riederer - wie so viele andere auch - die Ruhe zu bewahren, um keinen Verkehrsinfarkt zu erleiden.