Süddeutsche Zeitung

Tassilo:Die Hinausträumerin

Seit mehr als 30 Jahren liest sie ihrem Publikum vor: Die Vaterstettenerin Ulrike Wolz ist aus der Literaturszene der Region nicht mehr wegzudenken.

Von Franziska Langhammer

Der Moment, in dem die Menschen mit offenem Mund vor ihr sitzen und gebannt warten, wie es weitergeht - das ist der Augenblick, den Ulrike Wolz besonders genießt. "Und wenn ich die Pointe richtig bringe, und die Zuhörer dann hemmungslos lachen", fügt sie hinzu. Die Worte auf Buchseiten spür- und erlebbar zu machen, mehr als die bloße Geschichte zu transportieren, sondern mit ihr auch noch eine Stimmung, eine bestimmte Atmosphäre, das hat sich Ulrike Wolz aus Vaterstetten auf die Fahnen geschrieben.

Angefangen hat alles eigentlich schon in ihrer Kindheit. Eine unbändige Neugier trieb sie immer wieder in die Bibliothek der Stadt, in der sie aufwuchs. Regelmäßig brachte sie dort die Mitarbeiter zur Verzweiflung, weil diese ihr nichts Neues zum Ausleihen mehr mitgeben konnten. "Ich habe alles gelesen, was mir in die Finger kam", erzählt Ulrike Wolz, Jahrgang 1946. Von anspruchsvoll bis ganz einfach verschlang die junge Ulrike alle Geschichten. Wolz erinnert sich, dass sie ihre Eltern damit nervte, immer wieder Buchladen spielen zu wollen. "Es war ein bisschen, wie die Welt von zuhause aus kennenzulernen", sagt sie, "ein Hinausträumen."

Heute ist Ulrike Wolz passionierte Vorleserin und nicht mehr wegzudenken aus der regionalen Literaturszene - auch wenn sie selbst keine Autorin ist. "Ich hatte nie die Ambition, einen Roman zu schreiben", sagt sie. In ihrem Freundeskreis jedoch ist sie sehr wohl bekannt dafür, oft Theaterstücke zu Geburtstagen verfasst zu haben, die meist als sehr spitzzüngig und auf den Punkt gebracht gelobt wurden. Auch beruflich hat sich die Diplomvolkswirtin viel mit dem geschriebenen Wort auseinandergesetzt. Nach "Lehr- und Wanderjahren", wie sie selbst es bezeichnet, war sie 14 Jahre lang Chefredakteurin bei zwei Fachzeitschriften. Unter anderem betreute sie ein Magazin für Führungskräfte, das sich mit Themen wie Unternehmensführung, Personal- und Persönlichkeitsentwicklung befasste. Später war sie dann als freie Journalistin in diesem Bereich unterwegs.

"Ich habe viele Interviews geführt", erzählt Wolz. "Und irgendwann habe ich bemerkt, dass Bücher ein wunderbarer Türöffner sind im Gespräch mit Menschen, die man nicht kennt." Allein die Frage: "Was lesen Sie gerade?", helfe als Einstieg. Auch zuhause, bei ihren zwei Kindern, standen Bücher und Vorlesen am Abend immer an erster Stelle. Mittlerweile hat Ulrike Wolz fünf Enkel, denen sie früher auch häufig vorgelesen hat. Egal, ob jung oder alt, sie hat eigentlich für jede Altersgruppe einen Lesetipp zur Hand, ohne lange nachdenken zu müssen.

Zu ihrem 70. Geburtstag, erzählt Ulrike Wolz beispielsweise, habe sie sich von ihren Freunden gewünscht, für Bücherkisten zu spenden. Es kamen stolze 2500 Euro zusammen. Wolz überraschte Kindergärten in Vaterstetten mit den gespendeten Büchern, aus denen sie natürlich auch vorlas. Bei Kinderbüchern empfiehlt Ulrike Wolz gern Klassiker, etwa von Erich Kästner und Otfried Preußler, doch eines der gespendeten Bilderbücher ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben: "Bus fahren" heißt es, und es kommt ganz ohne Text aus. "Menschen und Tiere steigen ein und aus", erklärt Ulrike Wolz, "und alle Kinder waren begeistert, weil sie den Text mitgestalten konnten. Das fand ich großartig." Vor allem heute, in Konkurrenz zu zeitfressenden Computerspielen, hält die Vaterstettenerin das Lesen und Vorlesen für Kinder für unverzichtbar: "Ich habe die schlimme Befürchtung, dass sonst die Fantasie eintrocknet."

Mehr Raum für Literatur schaffte sich Ulrike Wolz Anfang der Neunziger: Sie trat einem Literaturkreis an der Volkshochschule Vaterstetten bei. Zwölf Frauen mit ganz unterschiedlichem beruflichem Hintergrund kamen hier zusammen und diskutierten regelmäßig mit einem Kursleiter über ausgewählte Werke. Als der Kurs zu Ende war, beschlossen die Frauen: "Wir wollen weitermachen - aber nie wieder mit einem Erklärer vorne!" Und so haben sie es gehalten: Seit 30 Jahren nun schon treffen sich die zwölf Leserinnen regelmäßig zum literarischen Austausch. "Es hat zwanzig Jahre gedauert, bis wir uns das Du angeboten haben", erzählt Ulrike Wolz und lacht.

Ihre Karriere als professionelle Vorleserin begann im Jahr 2002. In Vaterstetten gab es damals das Café Klamms, dessen Betreiber mit Wolz' Sohn befreundet waren und nach Events der etwas anderen Art suchten, um neue Kunden anzulocken. Nach einem gemeinsamen Brainstorming stand das Konzept: Ulrike Wolz würde neu erschienene Romane vorstellen und daraus lesen. "Das war von Anfang an ein Erfolg", erinnert sie sich. Zuerst seien nur Freunde gekommen, doch nach und nach wuchs das Publikum.

Besonders stolz ist Ulrike Wolz auf ihre stets ausverkaufte Weihnachtslesung, in der sie ausgewählte Geschichten rund um den Heiligen Abend vorträgt. Passend zum Fest erscheint ebenfalls jährlich Anfang Dezember die Liste "Welches Buch für wen?": Ulrike Wolz gibt hier Geschenktipps etwa in den Kategorien "Anspruchsvolle Vielleser", "Das könnte Männer interessieren" oder "Pageturner". Wenn alles gut geht, kann Ulrike Wolz im Herbst ihre hundertste Lesung in Vaterstetten feiern. Weitere Orte, an denen sie in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer wieder vorlesend in Erscheinung trat, sind etwa die Bücherstube in Grafing, die Gemeindebücherei Feldkirchen oder in Poing. Auch an eine Aktion, die sie gemeinsam mit einer befreundeten Weinkennerin ins Leben gerufen hat, erinnert sich die Literaturexpertin sehr gern: Bei einem Dinner, bei gutem Essen in schönen Restaurants, trug Wolz in kleinem Kreis Geschichten vor, die zum Menü passten.

Obwohl Ulrike Wolz viel liest - für einen literarischen Abend durchforstet sie mindestens zwanzig Romane zur Vorbereitung - hat sie das Lesen niemals satt. "Nach wie vor regt mich ein Blick auf den Bücherstapel vor mir so an, dass ich ihn am liebsten gleich in Angriff nehmen würde", sagt sie. Jeder Leser, so findet sie, erweitere seinen Horizont. Ihre Bücher hat Ulrike Wolz nach zwei Kriterien geordnet: Es gibt ein Regal mit den Büchern, die sie in ihrem Zirkel gelesen und besprochen hat. Alle anderen Bücher sind nach Verlagen sortiert. Und auch wenn ihr Mann manchmal verzweifelt, weil sie vor dem Urlaub so viele Bücher in den Koffer packt, kann Ulrike Wolz einfach nicht anders: "Mich gibt es nicht ohne Bücher."

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SZ vom 30.04.2021
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