Einkaufen in Ebersberg:Kramerläden: Die letzten ihrer Art

Kramer von Tegernau - Familie Fink

Jutta und Heinrich Fink vom 99 Jahre alten Kramerladen Tegernau mit Verkäuferin Angelika Krüger.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Kramer gehörte in Bayerns Dörfern einst dazu wie die Kirche und der Wirt. 2020 sind im Landkreis Ebersberg drei solcher Läden übrig - und die erleben in der Krise eine Renaissance.

Von Korbinian Eisenberger

Der Kunde ist Bauer. Eine Hand am Stock, die Haut von jahrzehntelanger Arbeit dunkel gegerbt: Ein Mann um die 80, vom Leben als Landwirt gezeichnet. Er öffnet die Ladentüre, hinkt bis zur Wursttheke und bestellt. "Zwei Paar Wollwürst'", sagt er. "Die gibt's erst wieder am Donnerstag", erklärt die Frau hinter der Theke. Dafür reicht sie ihm erst einmal eine Virusmaske. Ein Geschenk des Hauses. "Ned vergessen, die muaßt beim Kramer aufsetzen." Die Maske um die Ohren geschnallt, teilt der Kunde seinen Alternativwunsch mit. Dann nimmt er eben zwei Paar Weißwürst'.

In der Gemeinde Frauenneuharting im Landkreis Ebersberg gibt es einen der letzten Kramerläden Bayerns. Hinter der Ladentür mit dem Schild "Gemischtwarenhandel Fam. Fink" eröffnen sich 65 Quadratmeter, wo die warme Leberkässemmel noch 1,20 Euro kostet und Hemdknöpfe einzeln verkauft werden. Ein Ort, wo Federmäppchen, Briefmarken oder Lebendmausefallen im Regal auf ihren Käufer warten. Unter dem verglasten Verkaufstresen steht geschrieben: "Wir haben alles, was Sie brauchen. Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht."

Wäre es so einfach, hätte der Landkreis Ebersberg im Frühjahr 2020 noch mehr Kramerläden als die verbliebenen drei. Das wissen auch Jutta und Heinrich Fink, die den Familienbetrieb in Tegernau im September 2000 in dritter Generation übernommen haben. Seither stehen sie von Montag bis Samstag im Laden. Jutta, 58, und Heinrich, 67. Mit Kittel und Schürze. Und seit gut einer Woche zusätzlich mit Schutzmaske. Heinrich Fink sagt: "Dieses Haus hat schon ganz andere Zeiten überlebt."

Einst gehörte der Kramer in Bayerns Dörfern dazu wie die Kirche und das Wirtshaus. Mit der Eröffnung erster Supermärkte in den Siebzigerjahren begann dann ihr schleichender Niedergang. Mittlerweile hat der Preiskampf der Discounter die Krämer aus den Ortsbildern vertrieben. Im Landkreis Ebersberg sind im Frühjahr 2020 drei übrig: Familie Fink in Tegernau. Und je ein Kramer in Egmating und Emmering. Die letzten ihrer Art.

Von Tegernau ist es nicht weit nach Emmering, eine Gemeinde von 1500 Einwohnern. Kirche und Wirt haben in der Viruskrise auch hier Sparbetrieb. Umso größer ist der Andrang im Kaufladen der Krämerin: Maria Niggl fliegt schier zwischen den Regalen ihres winzigen Ladens herum. Die Haare und der Kittel wehen, als blase ein Wind. Die 54-Jährige ist auch sonst keine, die gerne Zeit verliert, in diesen Wochen aber hat sie gar keine andere Wahl. Der Kramerladen von Emmering ist so begehrt wie lange nicht.

Kramer von Tegernau - Familie Fink

Ein Aquarell des historischen Krämerladens Tegernau.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Beide, sowohl die Finks als auch Maria Niggl, haben einen Standortvorteil: Direkt im Ort gibt es keinen Supermarkt, dafür müsste man nach Grafing oder Aßling fahren. Die Kramer sind die einzigen Läden im Ort - und fußläufig. Unter der Woche stehen schon in der Früh um sechs die Handwerker bei Maria Niggl auf der Schwelle und bestellen einen "Kramerburger". Kurz darauf kommen die Schulkinder, am Vormittag die Hausfrauen und am Mittag wieder die Arbeiter. Hinzu kommt dieser Tage, dass immer mehr Menschen anrufen, erzählt Niggl. "Seit Corona bitten vor allem ältere Kunden drum, dass ich ihnen die Bestellungen vorbeibringe." Nicht ganz einfach, schließlich sind sie nur zu zweit im Laden, Niggl und ihre Assistentin Theresia Trautbeck. Die Lösung: Niggl whatsappt die Emmeringer Kicker vom TSV an. "Und die fahren dann für mich los."

In Notlagen sind die Kramer für die Leute im Ort stets besonders wertvoll gewesen. Das sieht man in Tegernau bei Frauenneuharting. Im Jahr 1920 gegründet, hat der Laden der Finks die Mangelwirtschaft während des Kriegs überstanden, als die Kunden die wenigen Dinge, die sie noch anbieten konnte, fast ausrauften. Dann die Zeit des Wirtschaftswunders. Und selbst die jüngeren Stürme der Globalisierung sowie der Druck der Großmärkte haben das ehrwürdige Geschäftshaus nicht erledigen können. Jetzt, wo die Menschen durch Ausgangsbeschränkungen weite Wege scheuen, kommt der Kramer ums Eck besonders den älteren Dorfbewohnern wieder einmal sehr gelegen.

Kramerin Maria Niggl Emmering

Maria Niggl, Krämerin von Emmering, füllt Regale.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Notlagen sind mit dem Ende der Nachkriegsjahre rar geworden in diesem Land. Und der Betrieb von Kramerläden immer weniger lukrativ. In der Kreisstadt Ebersberg gab es bis um die Jahrtausendwende einen "Minimal", auch er ist Geschichte. Hört man sich in der Szene um, ist es nahezu unmöglich geworden, Neuverträge mit den großen Ketten der Lebensmittelszene abzuschließen. Davon sind Kramer abhängig, weil sie sonst preislich erst recht nicht mehr mithalten können. Und so schreitet der Niedergang der Dorfläden voran.

Zurück in Emmering, wo Maria Niggl die Zettel mit den Anschreibungen sortiert. Also von Kunden, die einkaufen, aber erst später bezahlen, auf Vertrauensbasis. Beim Discounter undenkbar, beim Kramer gehörte das schon immer dazu. Das aktuelle Problem der Krämerin und ihrer Kunden - also neben Corona: Im März hat die Bankfiliale nebenan den Geldautomaten abgebaut. Das bringt die Leute zwar nicht in Not, aber in Verlegenheit. "Wo sollen die jetzt noch abheben, um einzukaufen?"

Kramerladen Egmating

Bei Egmatings Kramer steht ein Umzug an.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Niggl hat den Kramerladen 2003 übernommen, die Finks sind in dritter Generation Kramer. Heuer im September wird es hundert Jahre her sein, dass Heinrich Finks Urgroßeltern dort einer Schneiderei eröffneten und einen kleinen Laden anbauten. Bis heute gehen die Tegernauer "beim Schneider" zum Einkaufen, wenn der Weg zum Kramer ansteht. Daran hat sich in einem Jahrhundert nichts geändert, vieles andere schon.

Die Finks erzählen, wie sie bei ihrer Übernahme vor 20 Jahren um die 10 000 Euro investiert haben. Seither gibt es eine ordentliche Wursttheke, drei Gefriertruhen - und genug Platz, um lokale Produkte wie Brot, Fleisch, Kaffee oder Senf hübsch zu präsentieren. Bis zum Hundertsten am 4. September wollen sie weitermachen, sagt Jutta Fink. "Mindestens." Danach irgendwann, so die Hoffnung, wird ihre Tochter übernehmen. "Sie würde wahrscheinlich die Sache mit dem Kaffee ein bisschen anders machen."

Es ist eine Gratwanderung zwischen Idealismus und Innovation. In Egmating, wo der dritte Kramerladen im Landkreis immer vormittags offen hat, steht ein Umzug an. Von dort ist zu erfahren, dass der Laden im Laufe des Sommers in angrenzende Räume wechseln soll und modernisiert wird. Mehr gebe es derzeit nicht zu sagen, heißt es am Telefon. Während der Krise falle zu viel Arbeit für ein Interview an.

Nachmittag in Emmering. Zeit für eine Pause auf dem Bankerl vor Maria Niggls Kramerladen. Ja, das mit dem geschlossenen Bankautomaten war ein Problem, sagt sie. "Für alle hier." Also brauchte es eine Lösung. Man kann jetzt bei ihr Geld leihen. Im Prinzip wie anschreiben, nur dass es statt Ware auch Bares gibt. Obergrenze: 100 Euro. Maria Niggl ist jetzt nicht mehr nur die Kramerin im Ort, sondern auch die Bänkerin - und für manche noch mehr als das.

Eine Frau kommt bei der Tür herein, "Grias di Maria". Die Kundin berichtet vom Baby einer Bekannten. Romi soll die kleine heißen. "A schena Nam'", sagt Niggl, während sie Abrechnungen sortiert. Die Kundin ist mehr zum Ratschen gekommen als zum Einkaufen. Niggl sagt: "Es geht hier drinnen nicht nur um's G'schäft."

In Tegernau neigt sich der warme Bestand dem Ende zu. Ein Bub sichert sich schnell noch drei Leberkässemmeln und einen Spezi. Fünf Euro 20, "mersse, pfür Gott". Dann geht die Türe zu. Die Finks sind jetzt alleine mit ihren Soßenbindern, Senfgläsern und Sahnesteiftüten. Eine Atmosphäre wie in einem Spitzweg-Gemälde. Während sich draußen die Welt um Aktien, Finanzpleiten und Rettungspakete dreht, gehorcht das Geschäftsleben hier drinnen den Regeln der Bedächtigkeit.

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