Süddeutsche Zeitung

Mitten in Ebersberg:Menschen, die nach unten starren

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Vor mehr als 200 Jahren gab es mehrere Theorien zur Evolution. Eine davon wurde bald verworfen - vielleicht war das etwas zu voreilig.

Glosse von Wieland Bögel

Wer im Biounterricht gut aufgepasst hat, kann gar nicht anders, als beim Anblick einer Giraffe (oder Tschiraffe, sollte der Text auch in Österreich gelesen werden) an den vor fast genau 278 Jahren geborenen Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck zu denken. Für alle anderen: Dieser galt als der Begründer einer nach ihm Lamarckismus genannten Evolutionstheorie, wonach erworbene Eigenschaften auf den Nachwuchs übergehen. Klassisches Beispiel ist die Giraffe, deren Vorfahren sich immer so nach den besten und höchsten Ästen gestreckt haben, dass der jeweilige Nachwuchs immer ein Stück langhalsiger wurde als die Eltern. Seit Charles Darwin gilt dies indes als widerlegt, modernere Ansätze wie die Epigenetik wollen den alten Lamarck dagegen wieder ein Stück rehabilitiert haben - eine zufällige Beobachtung aus der Ebersberger Innenstadt scheint ihnen Recht zu geben.

Auf einem kombinierten Rad- und Fußweg kommt einem eine Radlerin entgegen, soweit, so gewöhnlich. Nur dass diese so konsequent zu Boden starrt, dass sie beinahe eine zwar sehr nahe an der Radelspur laufende aber ansonsten schwer zu übersehende Fußgängerin anfährt. Ein paar Meter weiter wird man selbst beinahe von einem Roller über den Haufen gefahren - dessen Lenkerin mehr Augen für den Boden als für die Straße vor ihr und die darauf eventuell Befindlichen hat. Auf dem Gehsteig daneben muss man dann einem stur geradeaus laufenden Fußgänger ausweichen - auch dieser hat offenbar nur Interesse an dem, was sich unmittelbar vor ihm auf dem Boden befindet.

Verwundert über diese Häufung zu Boden starrender Personen fällt einem - nachdem man sich selbst kurz davon überzeugt hat, dass Ebersbergs Herrchen und Frauchen immer noch brav die praktischen Plastiktüten nutzen - Lamarcks Giraffe ein. Denn: Wäre es nicht möglich, dass all das Zubodenstarren eine Folge des für die Nutzung mobiler digitaler Endgeräte unabdingbaren Blicks nach unten ist? Der auch noch anhält, ohne dass ein solches Gerät gerade im Einsatz ist? Weil es mittlerweile die natürliche Körperhaltung geworden ist, eventuell sogar schon vererbt wird? Und so vielleicht die nächste Stufe der Evolution ist: Nach Flossen kommen Beine, erst vier, dann zwei und nach dem aufrechten Gang, jener mit gesenktem Kopf. Lamarcks Giraffe wollte immerhin noch immer höher hinaus.

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