Süddeutsche Zeitung

Ebersberger Kampagne:Wenn eine Speisekarte Brechreiz auslöst

Lesezeit: 4 min

Das Projekt "Watch Out" des Kreisjugendrings und des Frauennotrufs richtet sich gegen Sexismus und Übergriffe. Unter anderem mit einem Film von und für junge Menschen.

Von Vera Koschinski, Ebersberg

Die Nacht hat den Bahnhof bereits in tiefe Dunkelheit gehüllt. Eine junge Frau macht sich, gefolgt von einem Mann, zügigen Schrittes auf den Weg nach Hause. Die Anwesenheit ihres Verfolgers ist ihr offensichtlich unangenehm. Doch auch nachdem sie die Straßenseite gewechselt hat, bleibt er an ihr dran. "Hallo Mäuschen" säuselt der männliche Protagonist. Überlegenheit und das Bewusstsein über die einschüchternde Wirkung seiner Worte klingen in seiner Stimme mit. Schließlich trifft die Protagonistin auf ihren Partner, der in einiger Entfernung des Bahnhofs auf sie wartet. Als der Verfolger ihn bemerkt, macht er einen Rückzieher, murmelt eine Entschuldigung. Jedoch richtet er diese nicht an die junge Frau, sondern an ihren Freund.

Diese Szene ist Teil des Kurzfilms "Bei Nacht", der im Rahmen des Projektes "Watch out! - Eine Kampagne gegen Sexismus" entstanden ist. Eine Gruppe Jugendlicher hat in dem zweiteiligen Werk die Nuancen, die zwischen einem harmlosen Flirt in beidseitigem Einverständnis und sexueller Belästigung liegen können, herausgearbeitet. Die Kampagne haben der Ebersberger Kreisjugendring (KJR) und der Frauennotruf 2020 ins Leben gerufen.

Marla Hantschel aus Vaterstetten ist eine der insgesamt 15 Jugendlichen, die sich zwei Jahre lang an dem Projekt beteiligt haben. "Ich habe mich davor auch schon viel mit dem Thema auseinandergesetzt. Es geht einfach jeden etwas an!", sagt die 16-jährige Schülerin. Jede heranwachsende Frau werde - auch heute noch - unweigerlich mit dem Thema Sexismus und sexuelle Gewalt konfrontiert. "Es liegt aber nicht nur an meinem Alter, dass ich als Frau nachts nicht mit einer solchen Selbstsicherheit durch die Straßen laufen kann wie beispielsweise mein Vater." Sie fühle sich selbst am sichersten, wenn sie nachts in einer größeren Gruppe unterwegs sei und die Umgebung durch die Polizei gesichert werde. Aber auch einfach "eine Laterne mehr" am dunklen Wegrand zwischen schlecht beleuchteten Wohnblöcken könne schon zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl betragen.

Eine Getränkekarte mit sexistischen Namen gab den Anstoß für das Projekt

Auslöser für die Initiative "Watch Out!" sei ein Vorfall in einer Ebersberger Gaststätte gewesen, die ihre Getränke unter Namen wie "Muschilappen" und weiteren despektierlichen Titeln verkauft habe, erzählt Philipp Spiegelsberger, Leiter des Ebersberger Kreisjugendrings. Eine Mischung aus Fremdscham und Empörung kann man seiner gedämpften Stimme anhören, als er nach einigen Andeutungen den Begriff widerwillig ausspricht. Mit der gleichen Verständnislosigkeit habe glücklicherweise auch die Kundschaft reagiert und den Frauennotruf informiert, erzählt er weiter.

Dieser Vorfall und die gleichzeitige Zunahme von Beratungsfällen beim Frauennotruf gaben den eng zusammenarbeitenden Einrichtungen allen Grund zur Besorgnis: "Wir müssen das Problem im Landkreis sichtbar machen", sagt Spiegelsberger. Denn nach wie vor verpufften viele sexuelle Übergriffe als vermeintliche Privatangelegenheit und Tabuthema im Schweigen, anstatt als Straftat verfolgt zu werden.

Auf der KJR-Website können Betroffene anonym von ihren Erfahrungen berichten

Auch ihm selbst sei durch die Initiative deutlich vor Augen geführt worden, dass Sexismus immer noch ein strukturelles, gesellschaftliches und vor allem alltägliches Problem sei, so Spiegelsberger. Gerade in der virtuellen Welt, in der vor allem junge Menschen viel Zeit verbringen, könnten Übergriffige sich in den Schutzmantel der Anonymität hüllen.

Um die Aufmerksamkeit der Opfer sexueller Übergriffe auf "Watch Out!" zu lenken, warb der Kreisjugendring mit grellfarbigen Posts auf den Sozialen Medien für sein Projekt. "Schonmal ein Dickpic bekommen?", so lautet einer der Slogans, der über der Zeichnung einer halbgeschälten Banane die Betroffenen direkt anspricht und gleichzeitig ermutigt, das Schweigen zu brechen. Die Posts leiten Interessierte auf die Webseite des Kreisjugendrings weiter, wo sie die Möglichkeit haben, in einem Kommentarfenster anonym von ihren Erfahrungen zu erzählen.

Die Filme sollen Schüler zur Diskussion anregen, in geschütztem Rahmen

Mittlerweile existieren drei Kurzfilme der Kampagne "Watch out!", die sich mit dem Thema sexueller Übergriffe und Gewalt befassen und bereits an einer Schule im Landkreis Ebersberg aufgeführt wurden. Philipp Spiegelsberger möchte die Filme allerdings nicht "kontextlos" der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Denn die Filme sollen die Schüler nicht nur aufklären und zu Diskussionen anregen, sondern auch die Bedürfnisse eventuell betroffener Jugendlicher berücksichtigen, die im pädagogisch betreuten, vertrauten Umfeld eine angemessene Unterstützung erhalten sollen.

Auch wenn die Perspektive der Frauen als Opfer sexueller Belästigung im Vordergrund der Arbeitsgruppe des KJR stand, hat diese sich in einem zweiten Teil von "Bei Nacht" auch mit der männlichen Perspektive befasst. Schließlich wecken die vermehrten sexuellen Übergriffe in Frauen Misstrauen, so dass diese von Männern einfordern, ihre Absichten eindeutig zu übermitteln.

Viele Frauen nähmen nachts einen Schlüssel in die Hand - für den Notfall

"Viele Männer wissen einfach nicht, was es für Wege gibt, zu zeigen, dass sie keine Gefahr für Frauen sind", erklärt Marla Hantschel. Außerdem habe es selbst die Jungs in der Gruppe überrascht, dass die Verunsicherung bei Frauen so präsent sei, "dass viele nachts vorsichtshalber einen Schlüssel oder ihr Handy in die Hand nehmen, um sich im Notfall verteidigen zu können". Mit Blick auf die Filmzuschauer wünscht sich die Schülerin, dass "die Leute über das Thema aus beiden Perspektiven nachdenken und sich bewusst machen, wie sie zu dem Thema stehen".

Das Wort sexuelle Belästigung ruft in nahezu jeder Frau irgendeine Erinnerung wach. Einhergehend meist mit dem Gefühl entwürdigender Machtlosigkeit, mit dem Gefühl, zu einem Objekt sexueller Begierde gemacht worden zu sein, ohne darauf in irgendeiner Weise Einfluss nehmen zu können. Auch wenn es nicht immer auch zu gewaltsamen Übergriffen kommt, beeinträchtigen diese Erfahrungen das Sicherheitsgefühl. Vor allem in solchen Momenten, in denen niemand zuschaut, in denen niemand zu Hilfe eilen kann. Wie zum Beispiel bei Nacht.

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