Süddeutsche Zeitung

Jahrbuch des Historischen Vereins:"Wie es eigentlich gewesen"

Das neue Jahrbuch des Historischen Vereins Ebersberg ist erschienen. In zehn Beiträgen katalogisieren Historikerinnen und Historiker die Geschichte des Landkreises: von der Baugeschichte des Schlosses Zinneberg über den mutmaßlichen Ebersberger Erfinder des Oktoberfests bis hin zu einer kurzen Geschichte des Maskeums in Kirchseeon.

Von Merlin Wassermann, Ebersberg

Geschichte und Geschichtsschreibung sind wirkmächtige Einflussfaktoren auf Politik und Gesellschaft. Davon ist zumindest Bernhard Schäfer, Erster Vorsitzender des Historischen Vereins für den Landkreis Ebersberg, überzeugt. Im Vorwort zum aktuellen 308 Seiten starken Jahrbuch nimmt Schäfer Bezug auf Wladimir Putins Instrumentalisierung der Geschichte zur Rechtfertigung seines Angriffskriegs gegen die Ukraine. Dem in "manipulativer Absicht gezeichneten Zerrbild der Geschichte" stellt Schäfer Leopold von Rankes Maxime der Historiographie entgegen: aufzuzeigen, "wie es eigentlich gewesen". In neun Aufsätzen und einer Mitteilung versuchen die Geschichtsforscherinnen und -forscher des Landkreises genau das.

"Alte, gefährdete Kirchen" im Landkreis

Den Auftakt hierzu bildet Hans Hupfers Beitrag "Alte, gefährdete Kirchen im südlichen Landkreis Ebersberg". Hier dokumentiert Hupfer minutiös die Geschichte von 28 Kirchen, "die im Laufe der zurückliegenden Jahrhunderte in der Gefahr standen, abgebrochen zu werden" - oder tatsächlich abgebrochen wurden. Zuvor waren nur gut zehn solcher Kirchen bekannt, so Hupfer.

Besonderes Augenmerk legt Hupfer dabei auf die Zeit der Säkularisierung nach 1803. In dieser historischen Periode wurden viele Klöster und Kirchen aufgelöst, doch, wie Hupfer schreibt, auch Widerstand dagegen geleistet. Oft schlossen sich Dorfbewohner zusammen, um ihre Kirchen zu retten. So etwa im Fall der Sankt Mariä Namen bei Weiterskirchen, die für 250 Gulden von Bauern aus der Umgebung gekauft wurde. Die Liste der Kirchen ist so angelegt, dass man sie in dieser Reihenfolge gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad besichtigen kann.

Schloss Zinneberg: 700 Jahre Baugeschichte

Den umfangreichsten Aufsatz steuert dieses Jahr der Diplomingenieur und wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Baugeschichte der TU München, Peter Kifinger, bei. Auf 69 reich bebilderten Seiten geht er akribisch der 700-jährigen Baugeschichte von Schloss Zinneberg bei Glonn nach. Der Text unterteilt die Geschichte des Schlosses in sieben Bauphasen.

Von der mittelalterlichen Burg, die zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert errichtet wurde und dem Adelsgeschlecht der Pienzenauer gehörte, ist nicht mehr viel zu sehen. Sie wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts von den neuen Besitzern, einer Nebenlinie der Fugger, im Barockstil überbaut. Die größte Bauphase erlebte das Schloss im frühen 19. Jahrhundert, als das Schloss in die Hände der bayerischen Kurfürstenwitwe Maria Leopoldine und ihrem Sohn wechselte. Hier entstanden viele der klassizistischen Elemente, die das Schloss heute noch prägen. Statt des Hofarchitekten Leo von Klenze, dem der Umbau oft zugeschrieben wird, benennt Kifinger den Hofbauinspekteur Simon Mayr als wahrscheinlichsten Autor der Baumaßnahmen.

Anfang des 20. Jahrhunderts fanden fast ebenso umfassende Umbauten statt, durchgeführt durch den Tabakindustriellen Adolf von Büsing-Orville, der das Schloss 1898 - und kurz darauf seinen Adelstitel - erwarb. Er engagierte den berühmten Architekten Friedrich von Thiersch, um das Gemäuer neu zu gestalten. Nach dem Ersten Weltkrieg verkaufte Büsing-Orville schließlich das Schloss an die heutigen Eigentümer, den Orden der Schwestern zum Guten Hirten.

Heute ist das Schloss, im Verhältnis zu früheren Epochen, im Stil deutlich vereinheitlicht. Dennoch, so Kifinger, dient es als Paradebeispiel für die architektonischen Modeerscheinungen der verschiedenen Epochen im Raum München.

Was wollten die Pienzenauer in Wasserburg?

Historiker Ferdinand Steffen nimmt sich in seinem Beitrag vor, das Rätsel um die Verbindungen der Pienzenauer mit Wasserburg zu lösen - oder zumindest etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Bekannt ist, dass die Pienzenauer den sogenannten "Lebensbaum" - ein Fresko am Chor der Pfarrkirche Sankt Jakob in Wasserburg - im 15. Jahrhundert gestiftet hatten. Unklar ist allerdings, welcher der Pienzenauer dafür verantwortlich war und wieso.

Steffen wendet sich gegen die übliche Deutung, dass es Wolf Pienzenauer gewesen sein muss. Stattdessen schlägt er "Ludwig d. Pyenzenauer" vor. Dieser war der einzige aus der Sippe, der zu der von Steffen hergeleiteten Zeit um 1447, in der der Chor neu gebaut wurde und das Fresko vermutlich entstand, Kontakte nach Wasserburg hatte.

Ein Komtur auf Kaperfahrt

Thomas Freller wiederum, Dozent an den Hochschulen Aalen und Schwäbisch Gmünd, erzählt über die Geschichte der "Malteserkommende Hornbach und ihren Komtur". Eine Kommende bezeichnet ein kirchliches Amt, das zwar ein Gehalt, aber keine Amtsverpflichtungen beinhaltet. Die Kommende Hornbach bestand zwischen 1781 und 1808, bevor sie im Zuge der Säkularisierung aufgelöst wurde. Komtur während der gesamten Zeit war Joseph Graf von Lodron.

Dieser wurde 1766 in eine wohlhabende und gut vernetzte Adelsfamilie geboren, weswegen für ihn eine Mitgliedschaft und Ausbildung im Malteserorden vorgesehen war. Dies war damals häufig die Grundvoraussetzung für eine Karriere in Diplomatie oder Militär, wie Freller ausführt. Joseph von Lodron war deswegen in seinem Leben auch immer wieder auf sogenannten "Karawanen" unterwegs, also Galerenexpeditionen, die osmanische Schiffe kapern sollten. Er erlebte zwar selbst keine Kampfhandlungen, allerdings die Wirren um die Auflösung seiner Komtur und des Malteserordens zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er selbst überlebte jedoch diese unsichere Zeit und starb erst 1840 in Wohlstand.

Zwei ungleiche Brüder

Ebenfalls biografisch arbeitet Claudius Stein, der die beiden Ebersberger Brüder Franz Xaver (1763-1829) und Augustin Gottfried Greckl (1765-1843) vorstellt. Wie Stein in einem Interview mit der SZ darlegte, kann Franz Xaver Greckl - dessen ausschweifendes und bewegtes Leben Stein in dem Aufsatz rekonstruiert - als der Erfinder des Oktoberfests gelten. Zwei Zeitungsberichte aus der Zeit benennen den Kaffeesieder als den Urheber der Idee eines Pferderennens zu Ehren der Vermählung des bayerischen Kronprinzen Ludwig mit der Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen.

Augustin Gottfried stellt in vielen Teilen das Gegenteil seines Bruders dar. Der Musterschüler und begabte Musiker wurde Teil der Augustiner-Chorherren, auch wenn er zeitlebens mit dem Klosterleben haderte. Dennoch schaffte er es, durch Fleiß und Talent die Anerkennung vieler seiner Zeitgenossen auf sich zu ziehen. Am bekanntesten ist er für seine Begräbnisvorschriften: entgegen der Tradition wollte Augustin Greckl spartanisch und ohne große Würden beigelegt werden.

Der Schlotbaron von Zinneberg

Eine weitere Biographie trägt Hans Huber bei, dieses Mal über den Baron Adolf von Büsing-Orville (1860-1948), den langjährigen Besitzer von Schloss Zinneberg. Anlass dazu gibt ihm der Fund eines Exposés aus den 1920er Jahren zum Verkauf des Schlosses. Es war durch den Hausmeister der Grundschule Moosach in einem zum Abriss bestimmten Haus entdeckt worden. Büsing-Orville hatte das Exposé von einer Münchner Immobilienfirma anfertigen lassen.

Der Industrielle, der durch die Produktion und den Verkauf von Schnupftabak reich geworden war, und als sogenannter "Schlotbaron" galt, wie der Geldadel zu dieser Zeit genannt wurde, wollte das Schloss nach Ende des Ersten Weltkrieges loswerden. Grund hierfür mag gewesen sein, wie Huber ausführt, dass die Spartakisten nach der Ermordung Kurt Eisners 1919 das Schloss stürmten und der Baron nur knapp der Entführung und möglichen Ermordung entging.

Ein Bauer unter dem NS-Regime

In seinem ausführlichen Beitrag beschäftigt sich der Direktor des Bayerischen Landtags a.D., Peter Maicher, mit dem Schicksal des Moosacher Bauern Daniel Wurth (1885-1958). Wie Maicher in einem SZ-Interview berichtete, wurde Wurth während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund seiner Regime-Untreue angefeindet, verlor seinen Hof und erreichte auch nach dem Krieg keine ausreichende Kompensation.

Die braune Vergangenheit Georg Lanzenbergers

Mit der NS-Zeit, genauer gesagt mit "Maler und Bürgermeister" Georg Lanzenberger (1897-1989), beschäftigt sich auch Hans Obermaier. Dieser war nicht nur ein passionierter Künstler, sondern auch erster Bürgermeister der Gemeinde Glonn, von 1933 bis 1945. Obermaier argumentiert und spekuliert, dass Lanzenberger nicht aus Überzeugung Parteimitglied und Bürgermeister wurde, sondern mehr aus Pragmatismus und Loyalität zu Glonn. Er stützt dies insbesondere auf einige Zeugenaussagen und Protokolle, die bescheinigen, dass Lanzenberger mehrfach intervenierte, um einen Transport von Häftlingen oder politischen Gegnern ins Konzentrationslager Dachau zu verhindern. In jedem Fall sei Lanzenbergers Tätigkeit als Künstler mit Tausenden entstandenen Kunstwerken zu schätzen.

Mit Leib und Seele Forstwissenschaftler

Auch Monika Mündel zeichnet ein schmeichelhaftes Bild ihres Protagonisten, Kurt Mantel (1905-1982). Dieser "Gelehrte und Diener der Forstwissenschaft", wie Mündel ihn nennt, begeisterte sich für jeden Aspekt eines Waldes: Geschichte, rechtliche Lage, Ökonomie, Brauchtum. Mantel verfasste auch Schriften über den Ebersberger Forst, so etwa seine Dissertation. Er begann seine wissenschaftliche Karriere zur Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Deswegen trat er, wie Mündel vermutet, in die NSDAP ein, um diese Karriere nicht zu gefährden. Nachdem er mit dem Sturz Nazideutschlands zunächst in Schwierigkeiten geriet, erlangte er jedoch bald eine Professur in Freiburg und wurde vielfach für seine wissenschaftlichen Verdienste ausgezeichnet.

Das Maskeum in Kirchseeon

Den Abschluss bildet ein mit vielen Fotos geschmückter Beitrag Rainer Eglseders über das Maskeum in Kirchseeon, welches er leitet. Eglseder erzählt kurz die Geschichte der Perchten in Kirchseeon von ihren Anfängen in den 1950er Jahren, als Hans Reupold den Perchtenverein gründete, bis zur langen Suche in den 1990er und 2000er Jahren nach einem geeigneten Standort für das Masken-Museum widmet. Er stellt außerdem das Inszenierungskonzept vor, in dessen Mittelpunkt Emotionen stehen, und gibt eine Beschreibung der Ausstellung.

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