Wenn sich Christian Einhellig in seinem Architekturbüro auf der Ostseite des Grafinger Marktplatzes ans Fenster stellt, reicht sein Blick bis in die Rotter Straße. Und dort weit genug für eine schnelle optische Analyse der Westseite der Hausnummer 8. "Oben am Giebel bröckelt weiter der Putz ab, überhaupt, das ganze Haus schaut nicht mehr gut aus", befindet der langjährige Freie Wähler-Stadtrat.
Die Optik liegt auch daran, dass seit eineinhalb Jahrzehnten kaum mehr etwas instandgehalten wird. Nurmehr die Jugendinitiative Grafing (Jig) ist im Erdgeschoss zuhause. Nebenan gibt es noch den Übungsraum des Jugendorchesters. Den großen Rest des alten Schulhauses hat das Landratsamt brandschutzgesperrt. Im Dezember 2008 war das. Seither rottet bester Innenstadtlage die Rotter Straße 8 vor sich hin.
Ähnlich wie es die Grafinger von ihrer Schwarzbau-Stadthalle kennen, herrschte auch in der "Ro8" ein jahrzehntelanger Grafinger Schlendrian. Abgesperrte Notausgänge für die im Brandfall erstmal der Schlüssel aus dem Schlüsselkasten geholt hätte werden müssen. Türen, die sich gegenseitig blockierten. Und, und, und. "Hinten und vorne inakzeptabel", wie damals jemand Beteiligtes klarstellte.
Ideen hat es in den vergangenen 14 Jahren viele gegeben - umgesetzt wurde davon nichts
Seit Dezember 2008 zerren Rathaus und Stadtrat nun auch schon an dem Haus herum. Sie entwickelten Ideen, verwarfen sie wieder, stellten fest, dass Rechnungen nicht aufgingen oder gewünschte Zuschüsse nicht bezahlt würden - oder dass sie zwei Angebote verglichen hatten, bei denen das eine mit und das andere ohne ausgebautes Dachgeschoss kalkuliert war. Mittlerweile gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Dabei hätte die Stadt mindestens drei Optionen, das keine 100 Meter vom Marktplatz entfernte Filetgrundstück zu entwickeln: Sie könnte es sanieren. Sie könnte es abreißen und neu bauen. Sie könnte - beispielsweise per Planungswettbewerb - das Gelände von einem Investor errichten lassen und dann zurückmieten. Keine der drei Optionen ist neu.
Die Politik scheint komplett das Interesse an der Rotter Straße verloren zu haben
Aber es mangelt gewaltig an politischer Initiative. Seit mehr als zweieinhalb Jahren ist Grafings Bürgermeister Christian Bauer (CSU) nun schon im Amt. Dass das Thema wenigstens mal auf die Tagesordnung kommt? Fehlanzeige. Im Stadtrat, von wo aus sich die Sache bekanntlich ebenfalls anschieben ließe, herrscht die gleiche Mentalität. Reihum heißt es: Ja, man brauche eine Lösung. Nein, konkrete Ideen müssten erst noch ausgearbeitet werden.
Selbst die grundlegendste aller "Ro8"-Debatten ist im Stadtrat seit Jahren kein Thema mehr: Soll das Gebäude weiter vor sich hinrotten? Soll es saniert werden? Oder sollen Abrissbagger den Weg frei machen für eine Überplanung des gesamten Areals?
Wenn schon keine politischen Initiativen, immerhin sind Tendenzen herauszuhören. Bauer spricht in Sachen "Ro8"-Zukunft wie selbstverständlich von einem Neubau. Grünen-Fraktionschefin Otti Eberl erinnert an den Vorschlag des früheren SPD-Stadtrats Ernst Böhm. Der hatte empfohlen, erschlossene Flächen aufgeständert zu überbauen - um zum Beispiel über Parkplätzen Wohnraum zu schaffen. "Das könnte man sich womöglich für den Parkplatz hinterm alten Schulhaus überlegen", findet Eberl.
Christian Kerschner-Gehrling, der Grafinger SPD-Ortsvorsitzende, sagt: "Das Gebäude ist wie ein fauler Zahn, der nur noch gezogen werden kann." Einen Abriss dürfe es allerdings erst geben, wenn eine für den Jugendtreff akzeptable Alternative gefunden ist.
Der Jugendtreff kann mit dem vorgeschlagenen Ausweichquartier nichts anfangen
Überhaupt sieht Bürgermeister Bauer die Jugendinitiative als Dreh- und Angelpunkt für alles Weitere. "Voraussetzung für einen Neubau der 'Ro8' ist, dass das Jig andere Räume hat", antwortete er auf eine Anfrage der SZ. Ein Lösungsansatz sei, den Treff in den Chaxter-Räumen am Bahnhof unterzubringen - wenn das Jugendcafé erst einmal ins Kinderzentrum in der Forellenstraße umgezogen sei.
In dem Treff ist man von der Ansage einigermaßen überrascht. "Von einem Auszug haben wir von der Stadt bestimmt seit zwei, drei Jahren nichts mehr gehört", bekräftigt Vorsitzende Helen Hamburger. "Wir kennen den Vorschlag mit den Chaxter-Räumen - er ist fürs Jig absolut keine Option." Das hätte der Treff gegenüber der Stadt auch stets so geäußert. "Der Bahnhof ist ein Milieu, an dem man keinen Jugendtreff hinbauen brauche." Da seien Probleme programmiert, die sich Stadt und Jig besser ersparten.
Die Jugendinitiative sei auch weiterhin für einen Umzug offen, betont Hamburger. "Nur müssen halt auch die Kriterien erfüllt sein", verweist die 23-Jährige auf die Nutzungsvereinbarung zwischen Stadt und Jig. Der Vertrag sichert dem Jig "mindestens gleichwertige Räumlichkeiten" zu, sollte es die Rotter Straße 8 verlassen müssen. Wichtig ist den Jig-Aktiven allen voran ein Veranstaltungsraum. Im Chaxter gibt es keinen.
Ist das Haus überhaupt noch sanierbar? Auch das weiß in Grafing derzeit niemand
Um die "Ro8" politisch wieder aufzugleisen, müsste wohl auch erstmal Klarheit herrschen, ob das Haus aus dem 19. Jahrhundert überhaupt noch sanierungsfähig ist. Vor zehn Jahren, als Einhellig und sein Grafinger Architektenkollege Klaus Beslmüller die Bausubstanz eingehend untersuchten, war dies noch der Fall. "Das Ergebnis von damals kann man aber aufs Jahr 2022 nicht mehr übertragen", sagt Einhellig. "Es ist ganz generell für die Bausubstanz ziemlich schlecht, wenn ein Haus länger leersteht und nicht genutzt wird." Er fürchte, das Zeitfenster für eine Sanierung könne schon überschritten sein.
Fest steht dagegen, dass von Rathaus und Stadtrat auch in nächster Zeit wenig zu erwarten ist. In der städtischen Finanzplanung, einer Art grobe Liste für perspektivisch anstehende Investitionen, fehlt die "Ro8" bis einschließlich des Jahres 2025 gänzlich. Und damit exakt so lange, wie die Finanzplanung nach vorne blickt.