Erste Hilfe:Wo es kein "Falsch" gibt

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Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand ist eine Reanimation notwendig. Doch das ist nur die "Worst-Case"-Erste-Hilfe, es gibt auch noch viele andere Situationen, in denen Erste Hilfe nützlich ist. (Foto: Marcus Steinbruecker/obs/DRK)

Die Nachfrage bei Erste-Hilfe-Kursen im Landkreis Ebersberg steigt bei vielen Anbietern - dennoch sind sich alle einig: Zu wenig Menschen sind fit in dem Bereich. Warum die Hemmung zu helfen unbegründet ist und was es mit dem Gender-Gap bei Reanimationen auf sich hat.

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Vor einiger Zeit war Gerhard Bieber mit dem Auto unterwegs. Hinten auf der Rückbank saß seine damals neunjährige Tochter, sie wollten zum Einkaufen. Doch auf halber Strecke stand auf einmal ein Traktor quer auf der Landstraße, ein Motorrad lag einige Meter weiter und im Feld neben der Straße war eine kleine Ansammlung von Menschen. Bieber hielt seinen Wagen an, stieg aus und lief hin. Dort lag der Motorradfahrer, er war bewusstlos. Und er atmete nicht. Sofort löste Bieber den Mann ab, der bereits mit einer Herzdruckmassage begonnen hatte - die Arme werden mit der Zeit müde. Einfach so war Gerhard Bieber zu einem Ersthelfer geworden.

Was die Geschichte von Gerhard Bieber zeigt, ist, dass sich jeder plötzlich in einer Situation wiederfinden kann, in der ein anderer Mensch in akute Not geraten ist - oder in der man selbst auf die sofortige Hilfe anderer angewiesen ist. In beiden Fällen gilt: Wäre schon gut, wenn man dann ein wenig Ahnung von Erster Hilfe hätte. Wie gut, dass von BRK, Johannitern und Maltesern gleichermaßen zu hören ist, dass die Nachfrage nach Erste-Hilfe-Kursen im Landkreis Ebersberg entweder konstant ist oder sogar steigt - vor allem, seit die Kurse wieder ohne jegliche Corona-Beschränkungen durchgeführt werden können. Einen Haken gibt es dennoch: Es sind immer noch zu wenig Menschen, die sich mit Erster Hilfe befassen.

Wer nicht muss, wie Führerscheinanwärter oder Betriebsersthelfer, macht selten einen Erste-Hilfe-Kurs

Gerhard Bieber ist Leiter im Bereich Kommunikation und Marketing beim Regionalverband München der Johanniter, die auch eine Dienststelle in Kirchseeon betreiben. Regelmäßig bietet die Hilfsorganisation auch dort Erste-Hilfe-Kurse an. Und Bieber sagt: "Fast niemand bildet sich freiwillig regelmäßig fort und trainiert so etwas wie Wiederbelebungsmaßnahmen." Ähnliches ist von Martha Stark, stellvertretende Vorsitzende des Ebersberger BRK-Kreisverbands, zu hören. Sie erzählt, dass das BRK vor einigen Jahren einen Erste-Hilfe-Kurs in sein Angebot aufgenommen hatte, der nur vier Stunden dauerte - eine Art Crash-Kurs sozusagen. Ziel war, sich auf die absoluten Basics zu beschränken, denn auch die können lebensrettend sein, damit für eine Teilnahme so wenig Freizeit wie möglich investiert werden muss. Die Kurse wurden so wenig nachgefragt, dass sie mittlerweile nicht mehr angeboten werden. Und Wilfried Brenner, Erste-Hilfe-Lehrer beim Kreisverband Erding, Freising, Ebersberg der Malteser, berichtet, dass sich viele einfach nicht trauen, Erste Hilfe zu leisten - aus Angst, etwas falsch zu machen.

Falsch machen, das ist ein Punkt, den alle drei betonen: Ein "Falsch" gibt es nicht, wenn es um Erste Hilfe geht. "Die Untätigkeit, das ist es, was es am Ende oft kaputt macht", sagt auch Viktoria Bogner-Flatz, Chefärztin der Ebersberger Notaufnahme. Sie nennt als Beispiel einen Menschen, der einen Herzstillstand erleidet: Pro Minute, in der nichts passiert, sinkt seine Überlebenschance um zehn Prozent. Diese Zahl nennt auch das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung ( DZHK). "Also erstmal jemanden zehn Minuten herumliegen lassen, dann können Sie es vergessen" - so die harte Quintessenz von Bogner-Flatz. Aus all ihren Berufsjahren fällt ihr kein einziger Fall ein, in dem eine Erste-Hilfe-Maßnahme den Zustand des Patienten verschlimmert hatte, wie sie sagt.

SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 86
:"Jemanden zu reanimieren kostet Überwindung"

Kürzlich erst hat Pola Gülberg einen Mann versorgt, der nur dank des schnellen Eingreifens von Ersthelfern überleben konnte: Sie haben ihn wiederbelebt bis die Rettungskräfte eingetroffen sind.

Protokoll: Johanna Feckl

Das Nichtstun ist durchaus ein Problem, wie ein Blick auf Zahlen verrät. So besagt der Jahresbericht 2021 des Deutschen Reanimationsregisters, dass in nur 42,6 Prozent der Fälle eines plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstands außerhalb eines Krankenhauses eine Laien-Reanimation begonnen wurde - in 65 Prozent der Fälle kam es übrigens zu Hause zu einem solchen Vorfall. Zwar sind die Zahlen der Laien-Reanimation in den vergangenen Jahren gestiegen, so lagen sie 2010 bei nur 31,1 Prozent. Aber 42,6 Prozent sind dennoch weniger als die Hälfte.

Doch was hilft gegen das Nichtstun? Nun ja, die Antwort ist denkbar einfach: ein Erste-Hilfe-Kurs. Dort wird nicht nur praktisches Wissen vermittelt, sondern auch theoretisches. Das ist wichtig, denn immer wieder stellen Teilnehmende Fragen, die für sie eine zunächst kaum überbrückbare Schwierigkeit darstellen. So war bei Martha Stark vom BRK in den Kursen lange Zeit folgendes Szenario Spitzenreiter: ein Verkehrsunfall, mitten im Ebersberger Forst, wo es an manchen Stellen schlechten oder gar keinen Handyempfang gibt - was tun? "Manche Probleme werden in den Gedanken konstruiert und bestätigen sich in der Realität dann aber nicht", sagt Stark. Denn um die 112 zu alarmieren, ist gar kein Handyempfang notwendig.

Immer wieder äußern Kursteilnehmende Bedenken, Muslimas zu reanimieren

Wilfried Brenner von den Maltesern erzählt von einer anderen Frage, die er und seine Kolleginnen und Kollegen immer wieder hören: Was soll man tun, wenn eine als solche kenntlich gekleidete Muslima einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleidet? Brenners Antwort ist simpel: "Reanimieren!" Die Sorge sei bei manchen groß, dass sie bei einer Muslima hinterher Ärger mit Familienangehörigen bekämen - bei einer Wiederbelebung komme man sich schließlich recht nahe. "Aber das ist absoluter Schwachsinn."

Allgemein erwartet sehr viele Frauen nichts Gutes, wenn es um Reanimation geht. Denn dass sie in der Öffentlichkeit wiederbelebt werden, geschieht seltener als es bei Männern der Fall ist: Laut einer Studie der American Heart Association aus dem Jahr 2020 erhalten nur 39 Prozent der Frauen eine Wiederbelebung, aber 45 Prozent der Männer. Eine niederländische Studie aus dem Jahr 2019 ergab zwar generell höhere Wahrscheinlichkeiten, per Erste Hilfe wiederbelebt zu werden, aber auch mit einer deutlichen Geschlechtsdifferenz: 67,9 Prozent der Frauen wurden reanimiert und 72,7 Prozent der Männer.

Weder ist das weibliche Brustgewebe bei einer Reanimation im Weg noch muss der Oberkörper komplett freigelegt werden

Wilfried Brenner erklärt sich dieses Missverhältnis unter anderem damit, dass früher nur an männlichen Dummies geübt wurde. Das Verwenden von Dummies mit weiblich geformter Brust könnte dazu beitragen, die Hemmschwelle zu senken - er selbst benutzt gar keine erwachsene Puppe mehr, die einem Mann nachgebildet ist. Beim Üben an einem weiblich imitierten Dummie merke ein Übender, dass man beim Drücken auf den Brustkorb überhaupt nicht das Brustgewebe berührt - beim Liegen rutscht alles nach außen, sodass oberhalb des Brustbeins viel Platz für die Herzdruckmassage ist. Außerdem: "Die dicke Daunenjacke sollte man vielleicht schon öffnen, aber eine Reanimation funktioniert auch, wenn man einen Pulli anhat", sagt Stark vom BRK.

"Ich bin froh, wenn die Teilnehmer im Kurs solche Fragen stellen, denn dann kann ich darauf reagieren und sie aufklären", so Stark weiter. Das sagt auch Wilfried Brenner. So könnten sie gleich Vorurteile aus der Welt schaffen.

Betriebsersthelfer bilden die größte Gruppe der Teilnehmenden an Erste-Hilfe-Kursen

In Deutschland gibt es in einigen Bereichen eine Pflicht zu einem Erste-Hilfe-Kurs, zum Beispiel für Führerscheinanwärter. Betriebliche Ersthelfer müssen alle zwei Jahre eine Schulung besuchen - sie bilden übrigens den größten Teil der Kurzteilnehmenden. Auch bestimmte Mitarbeitende im Schul- und Bildungsbereich müssen Kurse absolvieren. Eine solche Regelmäßigkeit befürworten die Gesprächspartner der Hilfsorganisationen für alle - ganz egal welcher Job ausgeübt wird. Denn: "Erste Hilfe besteht aus Üben, Üben, Üben", sagt Brenner. Hinzu kommt, dass sich die Erkenntnisse erweitern und so ist manches von dem, was früher gelehrt wurde, mittlerweile überholt: der Rhythmus bei einer Reanimation ist 30 Mal drücken und zwei Mal beatmen - nicht mehr 15/2. Der Helm eines bewusstlosen Motorradfahrers muss abgenommen werden, früher hieß es mal, dass er aufbleiben soll. Und bei Verbrennungen galt das Prinzip je kühler desto besser, doch mittlerweile ist klar, dass eine dadurch mögliche Unterkühlung mehr Probleme schafft als eine nicht gekühlte Verbrennung.

Erste Hilfe bedeutet nicht nur Reanimation, eigentlich ist das die Worst-Case-Erste-Hilfe. Asthmaanfall, Schlaganfall, Alkohol- oder andere Vergiftungen - es gibt viele Fälle, in denen Erste Hilfe geleistet werden kann. Und, das betonen alle Gesprächspartner: Auch einen Notruf absetzen gehört dazu.

Kurse bei BRK , Johannitern und Malteser kosten zwischen 50 und 60 Euro.

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