Süddeutsche Zeitung

Corona:Kleine Verlierer

Viele Kinder leiden noch an den Folgen der Einschränkungen während der Corona-Pandemie. Konzentration, Sprache, Motorik - auch im Landkreis Ebersberg stellen Fachleute hier viele Defizite fest.

Von Sina-Maria Schweikle, Ebersberg

"Die Folgen sind nicht mehr aufholbar", sagt Lorenz Huber und blickt in die Runde. Um ihn herum sitzen seine Kolleginnen, die zustimmend nicken. "Viele Kinder müssen wieder nahezu ganz von vorne anfangen und grundlegende Fähigkeiten wieder erlernen." Waren die Schließungen der Kindertagesstätten in den ersten Wellen der Corona-Pandemie notwendig? "Im Rahmen der Pandemiebekämpfung vielleicht ja" - aber welche Auswirkungen diese langfristig auf die Entwicklung der Kinder haben werden, das sei die Frage.

Gemeinsam mit seinen Kolleginnen arbeitet Lorenz Huber in der heilpädagogischen Tagesstätte in Ebersberg. Insgesamt drei Gruppen mit jeweils neun Kindern im Grundschulalter werden in Markt Schwaben und Ebersberg an 220 Tagen im Jahr betreut. Alle Kinder, die bei ihnen in der Tagesstätte sind, haben verschiedene Auffälligkeiten, sagt Matthias Sanne, Bereichsleiter für heilpädagogische Angebote der Diakonie Rosenheim. Oft kämen Sie aus einem schwierigen sozialen Umfeld und seien von einer "seelischen Behinderung bedroht". Vieles der Beeinträchtigungen seien bereits vor der Corona auffällig gewesen - doch mit den Schließungen und dem fehlenden Betreuungsangebot hätten sie zugenommen.

"Man konnte in der Zeit den gesellschaftlichen und sozialen Unterschied der Familien erkennen", sagt Katrin Rohde, Mitarbeiterin der Tagesstätte. Familien, die sowieso sozial benachteiligt waren, hätten demnach noch mehr unter den Kita-Schließungen gelitten. "Viele der Kinder hatten danach keinen Zugang zu Schulmaterial oder Spielsachen mehr." Schnell wurde den Mitarbeitern klar, wie dramatisch die Situation für manche Kinder ist, weshalb man sich bereits nach wenigen Wochen für eine Notöffnung entschied - zumindest für besonders gefährdete Kinder. "Kinder, die zuhause Gewalt erleben, hatten in diesen Zeiten überhaupt keine Rückzugsmöglichkeit mehr", sagt Sozialpädagoge Matthias Sanne.

Waren die Kita-Schließungen wirklich notwendig?

Es sind Erfahrungen wie diese, die viele Frage aufkommen lassen: Was haben die landesweiten Schließungen der Kindertagesstätten gebracht? Und wie groß waren die psychischen Belastungen? Antworten auf diese Fragen lieferte der Abschlussbericht der Corona-Kita-Studie, die von Mitte 2020 bis Ende 2022 von Forscherinnen und Forschern des Deutschen Jugendinstituts und des Robert-Koch-Instituts durchgeführt und vom Bundesfamilien- und Bundesgesundheitsministerium finanziell gefördert wurde.

Anfang November haben Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) die Ergebnisse vorgestellt: "Das Schließen von Kitas ist definitiv medizinisch nicht angemessen und wäre auch in dem Umfang, wie wir es damals gemacht haben, nach heutigem Wissen nicht nötig gewesen", sagte Lauterbach vor wenigen Wochen bei der Veröffentlichung des Abschlussberichts. Lauterbach betonte, dass die Kitas und die Kita-Kinder "keine wichtigen Treiber der Pandemie" gewesen seien. Doch seien es die Kinder gewesen, die extrem unter der Pandemie gelitten hätten, so Familienministerin Paus. Grund dafür seien zumeist nicht die Infektionen gewesen, sondern die Folgen der Kita- oder Schulschließungen. Depressionen, Angsterkrankungen und Essstörungen hätten besonders bei jenen Kindern stark zugenommen, deren Eltern über ein geringes Einkommen verfügen. Kitas mit vielen Kindern aus sozial benachteiligten Familien hätten jetzt einen fast doppelt so hohen Förderbedarf etwa bei Sprache oder Motorik wie vor der Pandemie.

Die Kinder in der Grundschule leiden bis heute

"Bei keinem der Kinder ist die Coronazeit spurlos vorbei gegangen", sagt die Teamleiterin der Schülerbetreuung Ebersberg, Angela Häusgen. Eingeschränkte Freiheit durch Homeschooling, Notbetreuung in der Schule, zu wenig soziale Kontakte, Bewegungsmangel durch fehlende Sportmöglichkeiten hätten massive Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder gehabt. "Die Grob- und Feinmotorik haben gelitten, deutliche Gewichtszunahme bei einigen Kindern war sichtbar", so die Erzieherin - vor allem beim gemeinsamen Spielen auf dem Pausenhof konnten sie und ihre Kolleginnen unkoordinierte und verlangsamte Bewegungsfähigkeiten feststellen. Demnach soll es auch häufiger zu kleineren Verletzungen gekommen sein.

Doch es sind nicht nur die Auswirkungen auf die Bewegungsabläufe, die den Erzieherinnen aufgefallen sind. Auch die schulischen Leistungen der Kinder haben während der Corona-Pandemie gelitten. "Zunehmend leiden die Schülerinnen und Schüler unter Sprach-, Lese- und Konzentrationsschwierigkeiten." Eine Entwicklung, die sich nach Häusgen jedoch schon länger beobachten ließ und demnach nicht ausschließlich auf Corona zurückführen sei. Die Schließungen während der Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen sind das eine. Doch auch die aktuellen Weltereignisse machen vor den Kinderzimmern keinen Halt. "Der gestiegene Medienkonsum hat die Kinder auch mit den Problemen der Erwachsenen konfrontiert, ohne dass sie Gelegenheit hatten, diese mit Gleichaltrigen zu verarbeiten", erklärt Angela Häusgen.

Dem wirkt die Schülerbetreuung mit regelmäßig stattfindenden Gesprächskreisen entgegen. Hier haben die Kinder die Möglichkeit, über ihre Ängste und Sorgen zu sprechen. Ein wichtiger Rahmen. Denn lange Zeit fehlte der soziale Kontakt zu Gleichaltrigen. Dies habe, so sagt es Häusgen, zu Konflikten und Kommunikationsproblemen unter den Kindern geführt. Diese Zeiten des Lockdowns wünscht sich die Leiterin der Schülerbetreuung nie wieder zurück.

"Besonders schwer betroffen sind erneut sozial benachteiligte Familien und Familien mit Migrationshintergrund"

Noch heute, da sich der Betrieb in den Kindertagesstätten wieder normalisiert hat, scheinen viele davon am Limit zu arbeiten. Nicht nur der Mangel an Personal dürfte hier eine Rolle spielen, sondern auch das Zusammenspiel verschiedener Probleme, die sich in den vergangenen zwei Jahren offenbart haben und sich aktuell verschärfen. "Besonders schwer betroffen sind erneut sozial benachteiligte Familien und Familien mit Migrationshintergrund", bekräftigt Alexa Schrüfer, Erzieherin der katholischen Kindertageseinrichtung St. Joseph Zauberwald in Kirchseeon. Generell habe sich die Sprachfähigkeit der Kinder verschlechtert, sie würden "verschwommen" sprechen. Gerade bei Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, sei es eine große Herausforderung die sprachlichen Fähigkeiten auszubauen und zu stärken.

Sehr ähnlich sehen das auch die Logopädinnen Bärbel Aschauer-Lammel und Patricia Pawlowski. "Die meisten der Kinder mit Migrationshintergrund haben während Corona zuhause nur in ihrer Muttersprache oder in sehr schlechtem Deutsch kommuniziert", sagt Aschauer-Lammel. Auch bei anderen Kindern seien die Sprachfähigkeiten teilweise eingeschränkt - aber manches habe sich im eben auch im Laufe der Zeit wieder angepasst und eine Behandlung unnötig gemacht. Generell stellen die beiden Logopädinnen nur ungern einen Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und den Sprachstörungen her. Sie selbst beobachten -und Studien würden dies auch belegen-, dass bereits vor Corona immer mehr Kinder wegen Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen und auditiven Wahrnehmungsstörungen zu ihnen als Patienten kommen. "Das Problem ist ein multifaktorielles", sagt Aschauer-Lammel, während Patricia Pawlowski ergänzt: "Corona ist dabei nicht allein die Ursache, es hat aber die Situation verschärft." Das liege unter anderem auch daran, dass Eltern ihren Kindern immer weniger vorlesen würden.

Wer also, soll sich um die Jüngsten unserer Gesellschaft kümmern?

"Wir können das nicht alles auffangen", sagt Annika Meyer von der heilpädagogischen Kindertagesstätte Ebersberg auf die Frage, wie man diesem Förderbedarf auf so vielen Ebenen entgegentreten kann. Die Kinder, so sagt sie, kommen in die Tagesstätte, um soziale Kompetenzen zu lernen und für die verhaltenstherapeutische Arbeit. In der Tagesstätte habe man während der Corona-Pandemie viel mehr schulische Unterstützung für die Kinder zur Seite gestellt, als es eigentlich die Aufgabe der Pädagogen sei.

Kindertagesstätten, die am Limit arbeiten, und Kinder, die unter psychischen Belastungen leiden - wie diese und die Benachteiligungen der vergangenen Jahre aufgefangen werden sollen, dazu machten Karl Lauterbach und Lisa Paus bei der Vorstellung der Corona-Kita-Studie konkrete Angaben: Kitas und Schulen sollen im kommenden Corona-Winter aufbleiben, genau wie Sport- und Freizeitangebote für Kinder. Familienministerin Paus verwies außerdem auf das im Koalitionsvertrag vereinbarte sogenannte Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit. Das soll an das Corona-Aufholpaket anschließen. Und auch das Angebot von kassenärztlichen Psychotherapien für Kinder sowie der öffentliche Gesundheitsdienst sollen ausgebaut werden. Letzterer soll sich stärker an Schulen einbringen und dort versuchen, besonders gefährdete Kinder zu unterstützen.

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